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29. Februar 2008, von Michael Schöfer
Warum wundert Ihr Euch eigentlich?


In Deutschland habe es einen Linksruck gegeben, maulen einige, beispielsweise FDP-Chef Guido Westerwelle. BDI-Präsident Jürgen Thumann konstatiert angesichts der Wahlerfolge der Linkspartei: "Der Linksruck in Deutschland setzt sich fort". [1] In der Tat gibt es - unterstellt, man rechnet die SPD zur linken Seite des politischen Spektrums - in Hessen und Hamburg linke Mehrheiten. Und nicht nur dort, ebenso in Brandenburg (SPD/CDU-Koalition), Bremen (SPD/Grüne-Koalition), Berlin (SPD/Linke-Koalition), Mecklenburg-Vorpommern (SPD/CDU-Koalition), Rheinland-Pfalz (SPD-Alleinregierung) und Sachsen-Anhalt (CDU/SPD-Koalition). Seit 2005 sogar im Bundestag (CDU/SPD-Koalition). Rein rechnerisch, versteht sich.

Freilich haben die Parteien des linken Spektrums außer im Bund nur in sieben von 16 Bundesländern die Mehrheit, weiterhin ist davon in drei Ländern und im Bund die CDU an der Regierung beteiligt (Hessen und Hamburg sind bislang noch unklar). Doch auch die Union sei mittlerweile nach links gerückt, heißt es. Die Larmoyanz ist schier unerträglich. Ob es hierzulande wirklich einen Linksruck gibt, darüber kann man trefflich streiten. Zunächst einmal kommt es hierbei auf die Position an, die man selbst einnimmt. Für etliche, die sich jetzt über einen Linksruck beklagen, sind nämlich schon armutsverhindernde Mindestlöhne sozialismusverdächtig. Und da sich eine klare Mehrheit der Bevölkerung für die Einführung von Mindestlöhnen ausspricht, könnte man in der Tat einen Linksruck unterstellen.

Aber ist es nicht vielmehr so, dass diejenigen, die gegenwärtig über den vermeintlichen Linksruck meckern, ihrerseits nach rechts gerückt sind und der angebliche Linksruck daher bloß eine Frage ihrer eigenen Perspektive ist? Wer heute noch, wie einst Norbert Blüm (CDU), die gesetzliche Rentenversicherung hochhält und die Hinwendung zur Privatisierung der Altersvorsorge kritisiert, ist doch nicht nach links gerückt, sondern vertritt lediglich den politischen Konsens der neunziger Jahre. Und ist man neuerdings schon links, wenn man das schnelle Abrutschen in die Armut (Hartz IV) ablehnt? 2002 stand das noch im Wahlprogramm der SPD. Gerhard Schröder hat das allerdings wenig interessiert, als er ein halbes Jahr später seine Agenda 2010 verkündete. Ist man also mit dem Sozialstaatsdenken, das die Bundesrepublik fast bis zum Ende des letzten Jahrhunderts geprägt hat, wirklich links? Wer das verneint, sollte sich demzufolge eher über den Rechtsruck der Linksruck-Kritiker beschweren.

Wie auch immer, warum wundert man sich eigentlich? Die Wahlerfolge der Linkspartei haben schließlich eine Ursache. Nun stehe ich der Linkspartei zweifellos äußerst skeptisch gegenüber [2], aber die Fragen, die sie aufwirft, sind berechtigt. Wenn die Reallöhne der Arbeitnehmer permanent sinken, während gleichzeitig auf Seiten der sogenannten Besserverdienenden riesige Vermögenswerte aufgebaut werden, braucht man sich über die Reaktion der Menschen nicht wundern. Ob das als Linksruck zu bezeichnen ist, sei dahingestellt. Die Liste dessen, was hierzulande falsch läuft, ist inzwischen ellenlang: Rekordaußenhandelsüberschüsse kontrastieren mit der Flaute auf dem Binnenmarkt, die vor allem aus der mangelnden Massenkaufkraft resultiert. Rekordgewinne der Unternehmen kontrastieren mit dem massiven Abbau der Belegschaften (BMW, Henkel, Siemens, um nur einige zu nennen). Die Energiepreise explodieren - logische Konsequenz der Privatisierung der Energieversorgung. Folge: Der Aufschwung kommt bei den meisten einfach nicht an. Im Gegenteil, der Niedriglohnsektor expandiert rasant. Viele können, trotz Vollbeschäftigung, von ihrem Lohn nicht mehr leben und müssen zusätzlich vom Staat unterstützt werden.

Was würden die gutsituierten Linksruck-Kritiker sagen, wenn man das Gleiche mit ihnen machen würde? Ist es wirklich verwunderlich, dass es den Menschen langsam stinkt? Dazu braucht es noch nicht einmal einen Steuerskandal von historischem Ausmaß (Stichwort: Liechtenstein). Und wer greift das Ganze politisch auf? Wer positioniert sich als Schutzmacht des "kleinen Mannes" auf der Straße? Die SPD? Reine Parteipropaganda, wenig Substanz! Die Grünen? Kann man vergessen! Union und FDP schon gar nicht. Wer bleibt dann noch übrig? Natürlich die Linke! Die Kritiker des Turbokapitalismus werden momentan politisch vor allem von der Linkspartei eingefangen, sie stellt wenigstens die richtigen Fragen und bietet außerdem einige richtige Antworten. Das Establishment braucht sich angesichts dessen nicht über den vermeintlichen Linksruck zu echauffieren. Die Ursache ist in diesem Fall eindeutig auf das unsoziale Handeln der etablierten Parteien und der Wirtschaft zurückzuführen.

Was erwarten die Linksruck-Kritiker? Dass sich die Menschen ohne Gegenwehr in ihr Schicksal fügen und wie die Lämmer zur Schlachtbank führen lassen? Das wäre ehrlich gesagt total meschugge. Derartige Erwartungen zeugen bloß von einem schwerwiegenden Realitätsverlust. Wer über den Linksruck jammert, sollte sich erst einmal über den eigenen Beitrag dazu Gedanken machen. Wäre Deutschland sozialer, bräuchte sich das Establishment jetzt nicht über ein Fünf-Parteien-System und unklare Mehrheiten zu beklagen. Viele wählen links, um "denen da oben" eins auszuwischen, weniger weil sie von der Linkspartei überzeugt sind. Und im Vertrauen: Es macht unheimlich Spaß, die Großkopfeten wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen umherrennen zu sehen. Allein das ist das Eintrittsgeld wert.

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[1] Handelsblatt vom 13.02.2008
[2] vgl. etwa Ich habe mich geirrt vom 16.02.2008