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22. März 2008, von Michael Schöfer
Kein Mitleid


Was paradox klingt, ist es auch: Aus Mitleid wird kein Mitleid gewährt. Die Selbstbestimmung des Menschen endet nicht mit dem Tod, sondern im Angesicht des Todes kurz vorher. Diane Pretty war an der unheilbaren Nervenkrankheit amyotrophe Lateralsklerose (ALS) erkrankt und wollte sich einen qualvollen Tod ersparen. ALS bewirkt eine irreversible Muskellähmung am ganzen Körper, einschließlich der Atemmuskulatur. Pretty bat darum, würdevoll sterben zu dürfen. Da sie bereits vom Hals abwärts gelähmt war und sich nicht selbst töten konnte, beantragt sie Straffreiheit für ihren Ehemann, falls er ihr Sterbhilfe leistet. Der britische Supreme Court verweigerte dafür jedoch die Genehmigung, auch vor dem Europäischen Gerichtshof bekam sie kein Recht. Am 12. Mai 2002 ist Diane Pretty erstickt.

Diane Pretty ist kein Ausnahmefall. Chantal Sébire bat die französischen Behörden ebenfalls um die Duldung aktiver Sterbehilfe. Sie litt an einem fortschreitenden Tumor der Atemwege, war bereits erblindet und hatte große Schmerzen. Ihr Gesicht war durch den Tumor stark verunstaltet. "Die Schmerzen fressen mich buchstäblich auf", sagte sie Ende Februar in einem Fernsehinterview. Bei Focus-Online sind Bilder der Erkrankten zu sehen. Doch auch hier gab es kein Mitleid. Wenn es um den Tod geht, gibt es offenbar kein Selbstbestimmungrecht mehr. Zumindest in Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Der sterbende Mensch wird quasi entmündigt. Du musst leben, und sei es auch noch so bitter. Aus dem Recht zu leben wird die Pflicht zu leben. So mutiert Humanität zu Inhumanität. Chantal Sébire ist vor ein paar Tagen unter bislang ungeklärten Umständen gestorben.

Die Behörden lassen humane Gesichtspunkt übrigens häufiger außer Acht. Ama Sumani, eine 39-jährige Frau aus Ghana, verwitwete Mutter zweier Kinder, die trotz unheilbarer Krebserkrankung aus Großbritannien ausgewiesen wurde, ist kürzlich gestorben. Sie litt an einem bösartigen Nierentumor. Nachdem ihr Visum abgelaufen war, musste sie Großbritannien verlassen, obgleich die von ihr benötigten lebensverlängernden Medikamente in Ghana nicht erhältlich sind. Dennoch bestand die Einwanderungsbehörde auf der Ausweisung. Ob die Verantwortlichen an Ama Sumani denken, wenn sie sonntags in der Kirche für die christliche Nächstenliebe beten? Aber vermutlich fallen ihnen solche Diskrepanzen gar nicht auf.

Doch Vorsicht, bevor man Großbritannien oder Frankreich vorschnell an den Pranger stellt, in Deutschland haben sich ähnliche Fälle ereignet. Hamida Mujanovic, eine Bosnierin, "starb drei Monate nach ihrer erzwungenen Rückkehr aus Deutschland in die Heimat, weil dort ihr schweres Asthma nicht wirksam behandelt werden konnte. Hinweise deutscher Ärzte, dass eine Rückkehr das Leben der Patientin gefährde, ließen die zuständige Ausländerbehörde unbeeindruckt." [1] Hamida Mujanovic war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Ob die zuständigen Bürokraten vor Scham im Erdboden versunken sind, ist leider nicht überliefert. Wahrscheinlich ließ es sie ohnehin völlig kalt. Schreibtischtäter sind herzlose Paragraphenreiter. Zweifellos haben sie absolut legal gehandelt, aber Menschlichkeit ist aus ihrer Sicht in diesem System einfach nicht vorgesehen. Könnt' ja jeder kommen...

Es ist grotesk: Todkranke werden gezwungen, am Leben zu bleiben, andere dagegen sehenden Auges in den Tod geschickt. Eine moralische Messlatte, an der das Handeln ausgerichtet wäre, ist nicht erkennbar. Einmal wird das Leben total überhöht und als unantastbar bezeichnet, selbst wenn es unerträgliche Pein bereitet. Ein andermal nimmt man den Tod billigend in Kauf, weil zum Beispiel die strikte Befolgung des Aufenthaltsrechts als viel wichtiger angesehen wird. Das Ergebnis in beiden Fällen: Eine in keinster Weise nachvollziehbare Unmenschlichkeit. Zum Glück wächst zumindest in puncto aktiver Sterbehilfe langsam die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann. In Europa haben die Niederlande, Belgien, die Schweiz und Luxemburg aktive Sterbehilfe in unterschiedlichem Ausmaß legal zugelassen. Aber warum gilt dies nicht überall? Selbstbestimmung ist ein Grundrecht - auch wenn es ums Sterben geht. Vielleicht sogar gerade dann.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 29.03.2000