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26. März 2008, von Michael Schöfer
Wie viele Tote erträgt Olympia?


Bislang sollen bei den Unruhen in Tibet 140 Tibeter ums Leben gekommen sein, viele andere wurden verhaftet. Und man muss befürchten, dass Letztere unter Folter zu leiden haben. Die Volksrepublik China ist nicht zimperlich im Umgang mit ihren Kritikern. Das ist seit langem bekannt. "The games must go on", sagte 1972 der damalige IOC-Präsident Avery Brundage angesichts des Attentats auf die israelischen Sportler im Münchner Olympiadorf. Dieser Tage wird häufig daran erinnert.

Ein Olympia-Boykott ist momentan (noch) nicht geplant. "Das Vorgehen in Tibet bestätigt die Befürchtung von AI, dass die Ausrichtung der Olympischen Spiele nicht automatisch zu einer Verbesserung der Menschenrechtssituation in China führt. Sie sind außerdem ein Beleg dafür, dass Peking sich nicht an sein Versprechen aus dem Jahr 2001 hält: Die Einhaltung der Menschenrechte im Vorfeld der Spiele zu verbessern", beklagt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Dennoch ist Amnesty gegen den Boykott der Spiele in Peking. Jedenfalls zur Zeit.

Aber wie viele Tote erträgt Olympia? 140? 280? Oder gar 1.000? Wo zieht man die Grenze? Und mit wie vielen Inhaftierten und Gefolterten wird sich die internationale Gemeinschaft abfinden? 10.000? 20.000? Hätten in München (1972), Barcelona (1992), Sydney (2000) oder Athen (2004) überhaupt jemals Spiele stattgefunden, wenn dort die Polizei kurz zuvor 140 Demonstranten erschossen hätte? Wohl kaum. Gibt es also einen Diktatur-Rabatt, sozusagen einen Nachlass in puncto Menschenrechte? Offenbar.


Manche behaupten, ein Boykott schade bloß den Sportlern und bringe nichts. Der Nichtboykott der Spiele von 1936 (Berlin) wird freilich im Nachhinein überwiegend als Fehler bezeichnet, die Nazis nutzten nämlich die Olympiade geschickt für ihre Propagandazwecke. 1980 (Moskau) und 1984 (Los Angeles) verpuffte der Boykott der Olympiade allerdings weitgehend wirkungslos. Auch das ist wahr.

Olympische Spiele werden nicht ausgetragen, sondern inszeniert. Das fängt beim Dopingsünder an und hört bei den Regierungen auf. Die Olympiade ist nicht nur ein Sportereignis, es geht bei ihr genauso um Kommerz wie um Politik. Sport kann sich demzufolge nie völlig von politischen Ereignissen abkoppeln - vor allem dann, wenn es Tote gibt. Kann man sich heitere Spiele vorstellen, während zugleich Tausende in den chinesischen Arbeitslagern "umerzogen" werden? Kann man sich vorstellen, dass Journalisten zwar über die Wettkämpfe berichten dürfen, angesichts der strengen Zensur aber nicht über Straßenkämpfe in Tibet? Die Weltpresse, eingesperrt zwischen den Wettkampfstätten - im Grunde undenkbar. Doch vermutlich wird die Realität im August genau so aussehen, Peking wird sich zu inszenieren wissen.

Wir sollten daher von China zunächst die Möglichkeit der freien Berichterstattung über die Ereignisse in Tibet einfordern. Sofern sich die Volksrepublik diesem Ansinnen widersetzt, ist der Boykott der Spiele, insbesondere wenn noch mehr tote Tibeter hinzukommen, eigentlich unumgänglich. Seien wir ehrlich, die meisten Länder haben ohnehin mehr Angst um ihre wirtschaftlichen Interessen, als um die Interessen ihrer Sportler. Der Medaillenspiegel ist ihnen längst nicht so wichtig wie der Außenhandel. Die Unternehmen bibbern daher wohl am meisten. China muss jedoch erkennen, dass es sich an Mindeststandards zu halten hat. Regeln gelten bekanntlich für alle. Schließlich bekommen chinesische Sportler beim 100-Meter-Lauf auch keinen Vorsprung eingeräumt.