Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



16. Mai 2008, von Michael Schöfer
Hat der Kapitalismus Verfassungsrang?


Vorab: Natürlich muss sich eine Demokratie gegen ihre Feinde schützen. Das ist die Lehre aus den dunklen Kapiteln unserer Geschichte. Außerdem widerspricht die allgemeine Lebenserfahrung einer wie auch immer gearteten "Friede-Freude-Eierkuchen"-Mentalität. Der Mensch ist nicht nur hilfreich und gut, er ist genauso zu den schlimmsten Taten fähig. Gerade Deutsche wissen das. Logischerweise brauchen wir daher auch Behörden, die uns vor jeglicher Unbill bewahren, zum Beispiel die Polizei. Und um nicht von negativen Entwicklungen überrascht zu werden, muss es schon im Vorfeld Aufklärungsarbeit geben. Bei uns macht das der Verfassungsschutz. Dagegen ist vom Grundsatz her nichts einzuwenden, solange sich die Verfassungsschützer an die geltenden Gesetze halten. Wie wir mehrfach erfahren mussten, ist das beispielsweise beim Bundesnachrichtendienst (BND), dem deutschen Auslandsgeheimdienst, nicht immer gewährleistet.

"Gemäß § 3 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) hat das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) - wie auch die Landesbehörden für Verfassungsschutz (LfV) - 'Auskünfte, Nachrichten und sonstige Unterlagen' zu sammeln und auszuwerten." Unter anderem über "Bestrebungen, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung oder gegen den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind. (...) Die 'freiheitliche demokratische Grundordnung' umfasst den unabänderlichen Kernbestand unserer Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht hat folgende Merkmale zu den obersten Wertprinzipien unser Demokratie bestimmt, die auch in den Gesetzestext aufgenommen wurden (§ 4 Abs.2 BVerfSchG):
  • Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten
  • Volkssouveränität
  • Gewaltenteilung
  • Verantwortlichkeit der Regierung
  • Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
  • Unabhängigkeit der Gerichte
  • Mehrparteienprinzip
  • Chancengleichheit für alle politischen Parteien
  • Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition
Als extremistisch werden die Bestrebungen bezeichnet, die gegen den Kernbestand unserer Verfassung - die freiheitliche demokratische Grundordnung - gerichtet sind. Über den Begriff des Extremismus besteht oft Unklarheit. Zu Unrecht wird er häufig mit Radikalismus gleichgesetzt. So sind z.B. Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf verändern wollen, noch keine Extremisten. Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch wer seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muss nicht befürchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird; jedenfalls nicht, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt", erläutern die Verfassungsschützer. [1]

Soeben hat Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble den Verfassungsschutzbericht 2007 vorgestellt. Umstritten dabei ist insbesondere die Beobachtung der Partei "Die Linke". Nun habe ich berechtigte Zweifel, ob die aus der SED/PDS hervorgegangene Linke immer die demokratischen Grundsätze hochhält. Da ich früher in der WASG war und mich genau aus diesem Grund dem Zusammenschluss mit der PDS verweigert habe, kann ich das ein bisschen beurteilen. Wer etwa innerhalb der Linkspartei über Menschenrechtsverletzungen auf Kuba diskutieren möchte, bekommt sehr schnell mit, dass diese seltsamerweise relativiert werden. Offenbar will man in puncto Kuba nicht so genau hinsehen. In meinen Augen ist das absolut falsch:

"Der Arzt und Menschenrechtler Marcelo Cano Rodríguez wurde am 25. März 2003 in Las Tunas festgenommen, als er der Festnahme eines anderen Arztes, Jorge Luis García Paneque, nachging. Luis García Paneque, der wie sein Kollege zur unabhängigen kubanischen Ärztevereinigung gehört, war einige Tage zuvor mit vielen weiteren Dissidenten bei einem harten Durchgreifen gegen die Opposition auf der Insel festgenommen worden. Marcelo Cano Rodríguez machte man den Prozess und verurteilte ihn wegen 'konterrevolutionärer Aktivitäten' zu 18 Jahren Gefängnis. Er wurde vom Gericht beschuldigt, Gefangene und ihre Familien besucht zu haben und Verbindungen zu der internationalen Organisation Ärzte ohne Grenzen zu haben. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen. Marcelo Cano Rodríguez ist der landesweite Koordinator der unabhängigen kubanischen Ärzteorganisation und Mitglied der kubanischen Kommission für Menschenrechte und nationale Versöhnung. Beide Organisationen werden von der kubanischen Regierung nicht anerkannt.

Das Recht auf ein faires Verfahren ist auf Kuba eingeschränkt, da die Gerichte und Staatsanwälte von der Regierung kontrolliert werden. Die Wahrung des Rechts von Dissidenten auf eine faire und angemessene Verteidigung ist ebenfalls unwahrscheinlich, da Kubaner keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl haben; Rechtsanwälte sind grundsätzlich bei der Regierung angestellt. Als solche könnten sie zögern, Staatsanwälte oder vom staatlichen Geheimdienst vorgelegtes Beweismaterial infrage zu stellen. Im Februar begrüßte Amnesty International die Freilassung von vier gewaltlosen politischen Gefangenen und Kubas Unterzeichnung von zwei internationalen Menschenrechtsabkommen. Doch mindestens 58 Personen befinden sich auf Kuba weiterhin in Haft. Sie sind nur deshalb eingesperrt, weil sie friedlich ihre Grundfreiheiten wahrgenommen haben. Unter ihnen befinden sich Lehrer, Bibliothekare, Journalisten und Menschenrechtler." [2]

Kuba ist kein freies Land, denn dort werden den Menschen grundlegende Rechte verweigert, etwa die für uns selbstverständliche Presse- und Meinungsfreiheit. Um nicht missverstanden zu werden: Wer für Freiheitsrechte in Kuba eintritt, ist nicht automatisch ein Freund der USA. Aber die Menschenrechte gelten überall. Und es gibt keinerlei Rechtfertigung für Menschenrechtsverletzungen - aus welchen Motiven auch immer. Wer das freilich innerhalb der Linkspartei thematisiert, bekommt heftigen Gegenwind. Da ist die Frage durchaus berechtigt, wie es die deutschen Verteidiger der kubanischen Revolution hierzulande mit der Demokratie halten. Würden sie sich im Zweifelsfall gegen demokratische Grundsätze entscheiden, wenn es ihnen politisch opportun erscheint? Ich persönlich lehne es jedenfalls prinzipiell ab, etwa aus einer naiven Revolutionsromantik heraus über Menschenrechtsverstöße in Kuba hinwegzusehen.

"Die Linkspartei wird nach Ansicht des Verfassungsschutzes von Extremisten und kommunistischen Altkadern unterwandert", schreibt der Focus. "Als stärkste Gruppe gilt die 'Kommunistische Plattform' (KPF). Deren Sprecherin, Sahra Wagenknecht, ist vom orthodoxen Flügel als stellvertretende Parteivorsitzende vorgeschlagen worden. Die Führung wird auf dem Parteitag der Linken Ende Mai in Cottbus neu gewählt. (...) Die 840 Mitglieder zählende KPF kämpfe offen für die 'Überwindung des Kapitalismus'." [3]



Was sagt der Verfassungsschutzbericht genau? Was wird dort als Beleg für den Vorwurf des Extremismus angeführt? Zum Beispiel ein Zitat des Co-Parteivorsitzenden Lothar Bisky: "Ja, wir diskutieren auch und immer noch die Veränderung der Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse. (...) Für alle von den geheimen Diensten noch einmal zum Mitschreiben: Die, die aus der PDS kommen, aus der EX-SED, und auch die neue Partei DIE LINKE - wir stellen die Systemfrage." [4] Der Aufforderung Biskys zum Mitschreiben ist der Verfassungsschutz prompt nachgekommen, seine Worte sind im aktuellen Verfassungsschutzbericht auf Seite 134 wiedergegeben. [5]

Auch die Kommunistische Plattform wird vom Verfassungsschutz zitiert: "Wir treten für einen Systemwechsel ein. Der Kapitalismus entblößt sein asoziales, weil ausbeuterisches, aggressives und kulturfeindliches Wesen täglich mehr. Letztlich muß er überwunden werden." [6] Die Sozialistische Linke (SL), eine andere Gruppierung innerhalb der Linkspartei, kommt ebenfalls zu Wort: "Wir setzen dem neoliberalen Menschenbild eines konkurrenzbetonten Menschen die Vorstellung einer sozialen und solidarischen Gesellschaft entgegen, in der die freie Entwicklung eines jeden die Voraussetzung der freien Entwicklung aller ist." [7] Und der Jugendverband "Linksjugend [`solid]" sagt: "Als Hochschulverband streiten wir für Sozialismus (...) Diese Ziele sind nur durch eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft zu realisieren. Der Kapitalismus ist für uns nicht das Ende der Geschichte. Wir stehen ein für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und stellen ihr unsere handlungsbestimmende Perspektive einer sozialistischen Gesellschaft entgegen. (...) Wir kämpfen dabei für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung." [8]

Für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Linkspartei sind die angeführten Zitate etwas dünn. Vor allem, weil die Begriffe nicht definiert werden. Nun ist der Sozialismus per se nichts Schlechtes. Schlecht ist bloß das, was bis 1989 östlich der Elbe daraus gemacht wurde. Ich bin ohnehin der Auffassung, dass diese despotische Gesellschaftsordnung im Grunde gar kein Sozialismus war, sondern lediglich eine Diktatur von engstirnigen und kleingeistigen Parteibonzen. Zudem tritt selbst die SPD - wenigstens verbal - noch immer für den demokratischen Sozialismus ein. "Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist", heißt es im gültigen SPD-Programm. [9] Heinz Fromm, seit Juni 2000 Verfassungsschutzpräsident, ist übrigens SPD-Mitglied. [10] Von daher ist der Terminus "Sozialismus" vollkommen ungeeignet, extremistische Bestrebungen gegen die Verfassung zu dokumentieren. Es kommt nämlich immer darauf an, was man konkret darunter versteht.

Extremismus lässt sich ebenso wenig unterstellen, wenn man "dem neoliberalen Menschenbild eines konkurrenzbetonten Menschen die Vorstellung einer sozialen und solidarischen Gesellschaft" entgegensetzt oder für "die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung" eintritt. Und ist die Aussage, der Kapitalismus entblöße "sein asoziales, weil ausbeuterisches, aggressives und kulturfeindliches Wesen täglich mehr", nicht zutreffend? Ist die aktuelle Lebensmittelkrise dafür kein Beleg? Oder die nach wie vor haarsträubende Ungleichverteilung der Lebenschancen? Oder die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich? Oder der völkerrechtswidrige Krieg der USA im Irak? Oder die Folterungen in Guantanamo, Abu Ghraib und der Bagram Air Base in Afghanistan?

Generell ist überdies festzuhalten: Der Kapitalismus hat bei uns keinen Verfassungsrang, denn er ist lediglich eine Form, wie man die Wirtschaft organisiert. Eine Form unter vielen, wenngleich momentan die vorherrschende. Unter den oben genannten Wertprinzipien unserer Demokratie taucht der Kapitalismus folglich gar nicht auf. Eine nichtkapitalistische, aber gleichwohl demokratische Gesellschaft ist zumindest potentiell denkbar. Sich für Letztere einzusetzen, ist nicht von vornherein extremistisch und damit verfassungsfeindlich. Was ist schlecht daran, eine soziale und solidarische Gesellschaft anzustreben? Das tut die SPD auch (siehe oben), steht indes im Gegensatz zur Linkspartei nicht im Verfassungsschutzbericht. Und wird vom BfV auch nicht beobachtet. Das Grundgesetz sieht sogar die Möglichkeit, die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse zu verändern, ausdrücklich vor. Artikel 14 Abs. 3: "Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig." Selbstverständlich im Rahmen der Gesetze. Selbstverständlich nur gegen Entschädigung. Selbstverständlich unter Beachtung des Wesensgehalts unserer Verfassung. Aber unter diesen Bedingungen am Ende doch zulässig.

Die Abkehr vom Kapitalismus ist zwar politisch unwahrscheinlich, allerdings wird sie von der Verfassung keineswegs untersagt. Hier wird m.E. vom Verfassungsschutz unsere jetzige Wirtschaftsordnung unzulässigerweise mit der Demokratie gleichgesetzt, obwohl das BfV doch selbst einräumt, dass "Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf verändern wollen, noch keine Extremisten" sind. Kapitalismus und Demokratie sind nicht zwei Seiten einer Medaille. Das eine kann (theoretisch) sehr wohl ohne das andere existieren.

Andererseits bin ich nicht so blauäugig, jedem Kapitalismuskritiker unbesehen hehre Ziele zu unterstellen. Sicherlich gibt es darunter einige, die die von mir als unverzichtbar erachteten Prinzipien der Demokratie tatsächlich beseitigen wollen. Genau das sollte aber vom Verfassungsschutz untersucht und in seinen Berichten detailliert herausgearbeitet werden. Trotz meiner eigenen Zweifel an der Linkspartei: In der vom BfV präsentierten Form ist mir das viel zu pauschal und undifferenziert.

Noch eine Bemerkung zum Schluss: Die Bundesregierung ist nun mehrfach mit Gesetzen vorm Bundesverfassungsgericht gescheitert, doch darüber liest man im Verfassungsschutzbericht nicht eine einzige Silbe. So schweigt er sich über verfassungsfeindliche Bestrebungen, beispielsweise die freimütig geäußerte Absicht, das Urteil vom Bundesverfassungsgericht zum Luftsicherheitsgesetz bewusst zu unterlaufen und trotz Verbot vollbesetzte Passagierflugzeuge abschießen zu lassen, völlig aus. In meinen Augen wäre das durchaus eine Erwähnung wert gewesen. Eigentlich müsste für alle der gleiche Maßstab gelten. Haben die Gesetze fürs Establishment keine Gültigkeit? Offenbar sind manche, in Anlehnung an George Orwells "Farm der Tiere", mal wieder gleicher. Ob die große Koalition oder gar der Bundesinnen- bzw. der Bundesverteidigungsminister vom Verfassungsschutz beobachtet werden, wage ich zu bezweifeln. Angesichts ihrer Äußerungen wäre es aber dringend notwendig.

----------

[1] Bundesamt für Verfassungsschutz
[2] Amnesty International, Briefe gegen das Vergessen, veröffentlicht in der Frankfurter Rundschau vom 22.04.2008, nachzulesen bei AI
[3] Focus vom 14.05.2008
[4] Disput, Juni 2007, Seite 55, PDF-Datei mit 4 MB
[5] Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2007, PDF-Datei mit 1,5 MB
[6] Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2007, Seite 137
[7] Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2007, Seite 139
[8] Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2007, Seite 141
[9] SPD, Hamburger Programm vom 28.10.2007, Seite 16f, PDF-Datei mit 2,5 MB
[10] Wikipedia, Heinz Fromm