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23. Mai 2008, von Michael Schöfer
Manipulation beim Armuts- und Reichtumsbericht?


Als Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) am 18. Mai 2008 die Zahlen des dritten Armuts- und Reichtumsbericht präsentierte, wurde ich gleich stutzig: Galten nach dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 1998 12,1 Prozent der Bevölkerung als arm (d.h. im Besitz von weniger als 60 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens), ist diese Zahl dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht zufolge bis 2003 auf 13,5 Prozent angewachsen. Doch nun sollen es im Jahr 2005 auf einmal bloß noch 13 Prozent gewesen sein. Die Armut wäre mithin, nimmt man die Zahlen von Olaf Scholz ernst, um ein halbes Prozent gesunken. Vor drei Jahren gab es noch keinen signifikanten Abbau der Arbeitslosigkeit, daran kann es also nicht liegen. Doch woran dann? Bislang sprachen nämlich alle veröffentlichten Daten für ein Anwachsen der Armut, von einem Zurückgehen war nirgends die Rede.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung hat in seinem Jahresgutachten 2007/08, das im November 2007 vorgelegt wurde, die Armutsquote für das Jahr 2005 mit 18,3 Prozent angegeben - wesentlich höher als die von Olaf Scholz vorgelegte Zahl. [1] Danach wäre die Armut gestiegen und nicht gesunken. Wer hat nun recht? Der Sachverständigenrat oder der Bundesarbeitsminister?

Auffallend ist im dritten Armuts- und Reichtumsbericht zunächst der starke Rückgang der Armutsgrenze für Alleinstehende von 938 Euro (2003) auf 781 Euro (2005) - immerhin ein Minus von 16,7 Prozent. Wenn man 2003 als Alleinstehender ein Nettoeinkommen von 800 Euro gehabt hat, lag man beim zweiten Armuts- und Reichtumsbericht noch unter der Armutsgrenze. Im neuen Bericht liegt man freilich mit dem gleichen Betrag darüber, gilt demzufolge nicht mehr als arm. An der konkreten Lebenssituation hat sich jedoch rein gar nichts geändert. Ist die scheinbare Verringerung der Armut bloß auf einen statistischen Effekt zurückzuführen?

Die "niedrigere Armutsrisikoschwelle ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass bei der EVS der Mietwert des selbstgenutzten Wohneigentums als Einkommenskomponente berücksichtigt wird und bei EU-SILC nicht. Dies ist bei EU-SILC erst für die Zukunft vorgesehen", schreiben die Autoren des dritten Berichts entschuldigend in einer Fußnote zum nicht unerheblichen Absinken des Werts der Armutsgrenze. [2]. Aha, es liegt also hauptsächlich an der unzulänglichen Datenbasis.

Knackpunkt ist wohl in der Tat die unterschiedliche Datenbasis. Wurde der zweite Bericht noch auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) erstellt, kommt beim dritten Bericht die Statistik der Europäischen Union über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) zur Anwendung. Die Autoren haben sozusagen die Pferde gewechselt, was natürlich wie bei jeder anderen Statistik Fragen hinsichtlich der Vergleichbarkeit aufwirft. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat bereits im Dezember 2007 deutlich auf die Problematik der zuletzt genannten Erhebung hingewiesen.

"Deutschland ist das einzige Land, das [bei EU-SILC, Anm. d. Verf.] keine Befragung mit Interviewern durchführt, sondern ab der ersten Welle eine rein postalische Erhebung vornimmt. Es hat überdies für die Entwicklung einer vollständigen Zufallsstichprobe eine Übergangsfrist bis 2008 eingeräumt bekommen. Ab dem Jahr 2005 wird jährlich ein Viertel der erforderlichen Haushalte aus einer so genannten 'Dauerstichprobe befragungsbereiter Haushalte' (DSP) der amtlichen Statistik gezogen und dann in drei weiteren Jahre wieder befragt. Erst nach vier Jahren besteht dann die gesamte Gruppe aus Haushalten, die als zufällig ausgewählt angesehen werden. In der Zwischenzeit werden die fehlenden Haushalte mit Hilfe von Quotenstichproben von den statistischen Landesämtern ergänzt." Diese Vorgehensweise führe zu Problemen, die deutliche Qualitätseinschränkungen erwarten lasse, betont das DIW. [3]

Unter anderem werden folgende Einwände vorgebracht:
  • Erstens treten bei postalischen Befragungen trotz telefonischen Nachfassens höhere Ausfallraten und ungenaues Ausfüllen (z. B. durch Rundungen) auf. Da gerade im untersten Segment eine beachtliche Zahl von Haushalten keinen Festnetzanschluss besitzt, ist telefonisches Nachfassen nicht möglich; dies dürfte zu einer Untererfassung des untersten Bevölkerungssegments führen.
  • Zweitens erreicht man mit ausschließlich auf Deutsch verfassten und recht komplexen Unterlagen, die nur mit der Post versandt werden, die schlecht integrierten Ausländerhaushalte mit geringen Deutschkenntnissen nicht ausreichend. Dies dürfte zu einer weiteren Untererfassung des unteren Bevölkerungssegments führen, in dem Ausländerhaushalte überdurchschnittlich häufig vertreten sind.
Die Einwände des DIW klingen plausibel. Mit anderen Worten: Es scheint sich tatsächlich so zu verhalten, als habe man das für die Bundesregierung günstigste statistische Verfahren ausgewählt.

Das DIW empfiehlt das Sozio-oekonomisches Panel (SOEP). "Das SOEP ist eine repräsentative Längsschnittstudie privater Haushalte in Deutschland. Die laufende jährliche Wiederholungsbefragung von Deutschen, Ausländern und Zuwanderern, wird seit 1984 vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführt. Sie beinhaltet Personen-, Haushalts- und Familiendaten, wobei Schwerpunkte der Erhebung auf den Bereichen Erwerbs- und Familienbiographie, Erwerbsbeteiligung und berufliche Mobilität, Einkommensverläufe, Gesundheit und Lebenszufriedenheit liegen." [4]

Die Daten des SOEP werden zwar im dritten Armuts- und Reichtumsbericht genannt, danach wird das Einkommensarmutsrisiko für 2005 mit 18 Prozent (!) angegeben [Seite 306], öffentlich bezog sich Bundesarbeitsminister Scholz jedoch auf andere Zahlen. Hat er das bewusst getan, weil ihm die Steigerung der Armut seit dem letzten Bericht zu groß war? Schließlich ist die SPD im Bund seit 1998 an der Regierung beteiligt und deshalb für die Entwicklung der Armut in hohem Maße mitverantwortlich. Und warum hat er sich trotz der Bedenken, die gegenüber den Daten auf der Basis von EU-SILC geäußert wurden, dennoch auf diese Angaben gestützt? Fragen, die noch zu erörtern sind.

Die Gefahr, dass man die verheerende soziale Entwicklung in unserem Land schönrechnen will, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Schönredner sind nämlich längst in die Offensive gegangen. [5] Immer getreu dem unzulässigerweise von der Nazi-Propaganda Winston Churchill zugeschriebenem Motto: "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast."

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[1] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2007/08, Seite 471, PDF-Datei mit 4,5 MB
[2] 3. Armuts- und Reichtumsbericht, Seite 24, PDF-Datei mit 1,7 MB
[3] Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Probleme des deutschen Beitrags zu EU-SILC aus der Sicht der Wissenschaft - Ein Vergleich von EU-SILC, Mikrozensus und SOEP, Seite 8f, PDF-Datei mit 223 kb
[4] 3. Armuts- und Reichtumsbericht, Seite 285
[5] vgl. Der Spiegelfechter vom 20.05.2008


Nachtrag (26.06.2008):
Die Armutsrisikoschwelle wird im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht mit 938 Euro (Seite 6) und 13,5 Prozent (Seite 19) angegeben, während dieser Betrag im neuen Bericht nur noch in einer Fußnote auf Seite 24 auftaucht, sonst ist im dritten Armuts- und Reichtumsbericht in Bezug auf EVS 2003 bloß von 980 Euro und 14 Prozent die Rede. Würde mich schon interessieren, wie es zu diesem unterschiedlichen Beträgen bzw. Prozentzahlen kommt. Großzügig aufgerundet?