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| Impressum 02. Juli 2008, von Michael Schöfer Demokratie im Abwärtstrend Analogien zu ziehen, etwa die zwischen der Weltwirtschaftskrise in den 20er/30er Jahren des 20. Jahrhunderts und der aktuellen Finanzmarktkrise, ist immer schwierig. Einerseits gibt es zwar in der Tat einige markante Parallelen, andererseits sind die Verhältnisse doch nicht vollkommen deckungsgleich. Eine schwere Depression schließt das allerdings keineswegs aus. Das Gleiche gilt im Hinblick auf die viel zitierten Weimarer Verhältnisse. Bekanntlich ist die erste deutsche Republik u.a. an der mangelnden Unterstützung seitens der Bürger gescheitert, sie ist als "Demokratie ohne Demokraten" in die Geschichtsbücher eingegangen. Das ist heutzutage anders, die Demokratie ist im Volk scheinbar fest verwurzelt. Freilich muss man bei dieser Feststellung ausdrücklich "noch" hinzufügen, denn die Zustimmung zur Demokratie schwindet. Im Grunde wenig verwunderlich, die Gesellschaft driftet nämlich zunehmend auseinander. Die Kluft zwischen denen, die auf der Sonnenseite sitzen, und denen, die ihr Leben auf der Schattenseite verbringen müssen, wächst unaufhörlich. Die Mittelschicht, traditionell das Rückgrat der Demokratie, erodiert. Was dereinst bleibt, ist eine Minderheit von Besserverdienenden, die einer Mehrheit von Deklassierten gegenübersteht. Nicht zuletzt die euphemistisch unter dem Stichwort "Umbau des Sozialstaats" firmierenden Hartz-Gesetze haben hierbei einen unrühmlichen Beitrag geleistet. Nach ganz unten abzurutschen, das geht inzwischen recht schnell. "37 Prozent sehen sich voll und ganz / eher auf der Gewinnerseite des Lebens. Eher bzw. voll und ganz auf der Verliererseite verorten sich hingegen 23 Prozent. Weitere 40 Prozent ordnen sich keiner der beiden Seiten zu", sagt eine neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. [1] Selbsteinschätzungen mit fatalen Folgen in Bezug auf die Akzeptanz der Demokratie: "62 Prozent der Bundesbürger äußern ihre Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland. (...) 31 Prozent meinen, die Demokratie funktioniere 'weniger gut', 6 Prozent bewerten sie 'schlecht'." Bevölkerungsgruppen, die die Demokratie überwiegend kritisch sehen, sind:
Die Demokratie steht und fällt mit der Beteiligung des Bürgers an den "öffentlichen Angelegenheiten" (res publica). Leider interessieren sich der Studie zufolge nur 30 Prozent der Bundesbürger für Politik, etwas Interesse zeigen 45 Prozent und 25 Prozent sind desinteressiert. Unter Letzteren sind Arbeiter, Arbeitslose, Befragte aus Hartz-IV-Haushalten und solche mit einem Haushaltsnetto-Einkommen unter 700 Euro stark vertreten. Auch unter 24-Jährige beschäftigt Politik kaum oder gar nicht. Das spiegelt sich in der Wahlbeteiligung wider: "Insgesamt 47 Prozent der Befragten können sich durchaus vorstellen, an der nächsten Bundestagswahl nicht teilzunehmen, für 52 Prozent der Bundesbürger kommt dies nicht in Frage." Unter den potentiellen Nichtwählern, fast die Hälfte der Bevölkerung, überproportional vertreten:
Eigentlich müssten sich insbesondere die Benachteiligten erheblich stärker als andere für Politik interessieren und obendrein unbedingt wählen gehen, denn nur so könnten sie die "Reformen", die stets zu ihrem Nachteil ausfallen, durchschauen und vielleicht erfolgreich beeinflussen oder sogar ganz verhindern. Die Partei der Nichtwähler hätte im Bundestag vermutlich die absolute Mehrheit. Doch das ist graue Theorie. Die mit der Demokratie Unzufriedenen, man beachte beispielsweise den Anteil der Anhänger von Rechtsparteien bzw. den Anteil der Anhänger der Linken, sind gespalten und lassen sich wohl kaum gemeinsam für eine bestimmte Politikrichtung mobilisieren. Dazu sind sie wiederum zu weit auseinander (die Negation des Bestehenden allein ist nicht ausreichend). Von der Zersplitterung profitiert zweifelsohne das Establishment am allermeisten (Motto: Teile und herrsche), bislang können die Begüterten relativ ruhig schlafen und ihren Wohlstand genießen. Bislang. Das muss aber nicht so bleiben. Die Gefahr für die Demokratie ist jedenfalls enorm, weil das Gros der Bürger ganz im Sinne von Max Weber (1864-1920) zum Staat eine zweckrationale Haltung einnimmt - die nüchterne Abwägung von Vor- und Nachteilen: Was bringt es mir? Und wenn es nichts (mehr) bringt, wird eben schnell das System als solches in Frage gestellt. Der Lackmustest, ob Deutschland die Demokratie auch in einer ernsthaften Krise bewahren kann, steht noch aus. Manche behaupten, Deutschland sei, im Gegensatz zu den angelsächsischen Nationen, eine Schönwetterdemokratie, die nur in guten Zeiten funktioniere. Mag sein. Ob das Establishment unter veränderten Bedingungen seine dominierende Stellung bewahren kann, ist ebenfalls fraglich. Der Blick in die Geschichte zeigt uns etwas anderes. Die starrsinnigen Besitzstandswahrer hatten am Ende meist das Nachsehen, weil sie es einfach zu weit trieben. Die sukzessive Aufkündigung der gesellschaftlichen Solidarität durch die Begüterten ist folglich auf lange Sicht kontraproduktiv. Und zwar für sie selbst. Früher war man sich hierzulande einig, dass alle etwas vom Kuchen abbekommen sollten. Diesen Konsens nannte man "soziale Marktwirtschaft". Seitdem der Kuchen so verteilt wird, dass für viele bloß noch Krümel abfallen, während andere raffgierig immer größere Stücke auf ihren Teller schaufeln, hat sich etwas tiefgreifend verändert. Nicht ohne gravierende Folgen, wie die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt. Die Lage ist keineswegs aussichtslos, noch kann man den Trend aufhalten und umkehren, doch dafür wäre eine gerechtere Verteilung des Reichtums dieser Gesellschaft notwendig. Die Frage, ob dies gelingt, bleibt vorerst unbeantwortet. Auf die Einsicht der Reichen zu hoffen, ist wahrscheinlich vergebens, Klugheit und Habgier schließen sich nämlich in der Regel aus. Demokratie ist, andere Mehrheiten zu organisieren, um einen Umverteilungsprozess, diesmal von oben nach unten, in Gang zu setzen - selbst wenn das Unterfangen momentan nahezu aussichtslos erscheint. Demokratie ist, an die friedliche Veränderung der Verhältnisse zu glauben. Nur wenn sich die Gesellschaft gegenüber Veränderungen dauerhaft als immun erweist, gerät die Demokratie wirklich in Gefahr. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist ein Alarmsignal. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. ---------- [1] Friedrich-Ebert-Stiftung, "Persönliche Lebensumstände, Einstellungen zu Reformen, Potenziale der Demokratieentfremdung und Wahlverhalten", PDF-Datei mit 241 kb Nachtrag (03.07.2008): Angeregt durch eine Leserzuschrift möchte ich Folgendes hinzufügen: a) Die Frage der Friedrich-Ebert-Stiftung nach der Einstellung ZUR Demokratie ist leider zu unpräzise, denn nicht jeder, der sich negativ über DIESE FORM von Demokratie äußert, lehnt die Demokratie als solche ab. Er wünscht sich vielleicht bloß eine ANDERE FORM von Demokratie. b) Die Friedrich-Ebert-Stiftung interpretiert die Ablehnung der (real existierenden) Demokratie als Folge "persönlichen Versagens". Motto: Wer es zu nichts bringt, macht dafür unberechtigterweise die Demokratie verantwortlich. Doch das hat schon Wolfgang Lieb auf den NachDenkSeiten in seinem lesenswerten Beitrag "Persönlicher Misserfolg als Grund für die Distanz zur Demokratie?" vom 01.07.2008 völlig zu Recht kritisiert. |