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05. Juli 2008, von Michael Schöfer
Trash-Kultur


Früher musste man zuerst etwas leisten, bevor man überhaupt daran denken konnte, berühmt zu werden. Albert Einstein beispielsweise hat zunächst brav die Relativitätstheorie entwickelt und wurde erst anschließend zur ersten Physik-Pop-Ikone der Neuzeit - obgleich kaum jemand behaupten kann, seine Theorie voll und ganz zu verstehen. Heute muss das begeisterte Publikum ebenso wenig verstehen wie damals, aber inzwischen sind Wissen und Leistung selbst für die Promis verzichtbar geworden. Heutzutage wird man auch berühmt, wenn man gar nichts zustande bringt, nicht einmal einen grammatikalisch richtigen Satz: "Da werden Sie geholfen." Mit einem Oberekel, über den man außerhalb der Trash-Szene bestenfalls die Nase rümpft, für kurze Zeit das Bett zu teilen und der Welt via Bild & Co. fortwährend seine üppigen Silikonbrüste ins Auge zu schleudern, reicht dazu mittlerweile vollkommen aus.

ImGegenteil, je dümmer die Promis, desto mehr hat das Publikum zu lachen. Amüsement ist alles. Erbin einer Hotelkette zu sein ist Grund genug, ständig in den Zeitungen präsent zu sein - selbst wenn die Erbschaft entgegengenommen zu haben vermutlich das einzig Positive ist, was diese Person je "leisten" wird. Und manchmal werden Menschen schon vor der Geburt zu Stars. So sollen etwa die noch nicht geborenen Zwillinge von Angelina Jolie und Brad Pitt Ehrenbürger von Nizza werden. Das hat jedenfalls der Bürgermeister der Stadt an der Cote d'Azur, Christian Estrosi, angekündigt. Grund: "Es sei ein großes Kompliment für Nizza, dass Jolie und Pitt sich die Stadt für die Geburt ihrer Babys ausgesucht hätten." [1] Vorläufiger Höhepunkt der nach unten offenen Peinlichkeits-Skala.

Ich welcher Welt leben wir eigentlich? Da tun sich zwei keineswegs überragende Schauspieler, die teilweise in mittelmäßigen Filmen zu sehen waren, zusammen und breiten ihr Privatleben vor der Öffentlichkeit aus. Und alle scheinen bei dieser Inszenierung gehorsam mitzuspielen. Anmerkung für alle unter 30: Es gab tatsächlich einmal eine Zeit, da wurden bloß respektable Bürger, die eine gewisse Lebensleistung vorzuweisen hatten, zu Ehrenbürgern ernannt. In meiner Wahlheimat Mannheim sind das u.a.:
  • Otto von Bismarck (1815–1898), Reichskanzler
  • Wilhelm Furtwängler (1886–1954), Dirigent
  • Carlo Schmid (1896–1979), Bundesminister
  • Walter Krause (1912–2000), stellvertretender Ministerpräsident von Baden-Württemberg [2]
Gleichgültig, wie man zu den einzelnen Personen stehen mag (die vollständige Liste umfasst 43 Namen), jeder von ihnen hat irgendetwas Herausragendes geleistet. Wenn die Absicht von Nizza wirklich Schule macht, werden auf den Ehrenbürgerlisten unserer Gemeinden demnächst so illustre Persönlichkeiten wie Daniel Küblböck, Zlatko oder Frau Zehnbauer auftauchen. Kein Wunder, wenn Jugendliche heute als Lebensziel häufig "Star werden (egal, wie)" im Auge haben, es an den Universitäten in den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern aber an Studenten mangelt.

Über die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an die ungeborenen Kinder von Jolie und Pitt kann man deshalb nur verständnislos den Kopf schütteln. Einst gab es Menschen, denen Bildung eine Herzensangelegenheit war und als Selbstzweck diente. Davon ist offenbar nichts geblieben. Leider.

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[1] Salzburger Nachrichten vom 04.07.2008
[2] Wikipedia, Liste der Ehrenbürger von Mannheim