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24. Juli 2008, von Michael Schöfer
Systematische Täuschung

Helmut Kohl ist u.a. deshalb abgewählt worden, weil unter seiner Ägide die Steuer- und Abgabenbelastung - zumindest für die Arbeitnehmer - auf Rekordniveau gestiegen ist. Die Wiedervereinigung wurde nämlich größtenteils über die drastische Erhöhung der Sozialabgaben finanziert. Rot-Grün versprach hoch und heilig, dies zu ändern. Doch auch Gerhard Schröder, der Kanzler der Bosse, hatte vor allem die Reduzierung der Steuer- und Abgabenbelastung der Besserverdienenden und der Unternehmen im Sinn. Von seiner Zusage, die kleinen und mittleren Einkommen zu entlasten, ist bekanntlich nicht viel geblieben.

"Die Senkung von Steuern und Abgaben sei das Markenzeichen der Union und werde dies auch bleiben. Man wolle den Menschen 'mehr Netto vom Brutto' geben, das sei der Maßstab", verkündete die CDU-Vorsitzende Angela Merkel kürzlich auf dem CSU-Parteitag. [1] Alles Augenwischerei, alles Parteipropaganda, alles systematische Täuschung der Wählerinnen und Wähler, denn unter Bundeskanzlerin Merkel hat sich an der Belastung der Arbeitnehmer ebenfalls nichts geändert. Das Statistische Bundesamt bringt es an den Tag.

"Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, blieben den vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Produzierenden Gewerbe, Handel, Kredit- und Versicherungsgewerbe von 100 Euro Bruttolohn im Jahr 2006 nach Abzug von Lohnsteuern und Sozialbeiträgen im Durchschnitt 64,41 Euro. Dies entsprach in etwa den Ergebnissen der Erhebungen in den Jahren 1995 und 2001 (65,23 Euro und 64,77 Euro). Die Beitragssätze der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung stiegen von 19,7% im Jahr 1995 auf 20,4% im Jahr 2001 und auf 21,4% im Jahr 2006." [2]

Mit anderen Worten: Die Gesamtbelastung der Arbeitnehmer ist, was den Arbeitslohn angeht, seit der Ära Kohl praktisch unverändert. Von der Volksverdummung in Bezug auf die private Altersvorsorge ganz zu schweigen. Die Entlastung 2007 wurde von der dreiprozentigen Mehrwertsteuererhöhung konterkariert. Und weitere Belastungen stehen bereits vor der Tür: Stichwort Gesundheitsfonds. [3] Es wird zwar viel über eine Entlastung der "hart arbeitenden Menschen" gesprochen, in konkretem Handeln schlägt sich das allerdings nicht nieder. Faktisch werden nach wie vor insbesondere die Unternehmen entlastet. Alles zum Wohle des Standorts Deutschland, versteht sich.

Auf die Belebung des Konsums und das Anspringen der Binnenkonjunktur wird man daher leider vergeblich warten - unabhängig davon, was die Wirtschaftsforschungsinstitute immer wieder aufs Neue großspurig vorhersagen. "Der Konsum springt an", verkündete beispielsweise das Ifo-Institut im Februar. [4] Erwartungsgemäß reifte aber innerhalb kurzer Zeit die Erkenntnis heran: "Die Hoffnung, dass der private Konsum den Konjunkturmotor spielen wird, kann man begraben." [5] Schuld sei die Inflation. Richtig. Aber nicht nur. Könnte es nicht auch an der versprochenen, gleichwohl bislang ausgebliebenen Entlastung der Arbeitnehmer und der drastischen Ausweitung des Niedriglohnsektors liegen? Es verwundert immer wieder, wie wenig Wert man in gewissen Kreisen den Fakten beimisst. Bedauerlicherweise ist die Wirtschaftswissenschaft alles andere als ideologiefrei.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Senkung der Steuer- und Abgabenbelastung der Arbeitnehmer sollte nicht mit weiteren Kürzungen im Sozialbereich erkauft werden, sondern in ein zunehmend steuerfinanziertes Sozialsystem münden. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum dessen Finanzierung fast ausschließlich den Faktor Arbeit belastet, während etwa Vermögenseinkünfte außen vor bleiben. Das Sozialsystem geht alle an, deshalb sollten sich auch alle an dessen Finanzierung beteiligen - gleichgültig wo und wodurch sie ihre Einkünfte erzielen.

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[1] tagesschau.de vom 18.07.2008
[2] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 266 vom 23.07.2008
[3] siehe Wachsende Belastung der Arbeitnehmer vom 11.07.2008
[4] Der Tagesspiegel vom 27.02.2008
[5] Reuters vom 16.07.2008