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12. August 2008, von Michael Schöfer
Einkreisungsängste oder Renaissance des russischen Imperialismus?


Warum ist Georgien dem Westen so wichtig? Bestimmt nicht, weil Präsident Michail Saakaschwili als vorbildlicher Demokrat gilt. Demokratie sieht bekanntlich etwas anders aus. Nein, es geht, wie so oft, um wirtschaftliche und geostrategische Interessen. Georgien ist als Transitland für aserbaidschanisches Öl und Gas aus dem Kaspischen Meer unverzichtbar. Durch Georgien verlaufen nämlich die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline (Öl) und die Südkaukasus-Pipeline (Gas), sie ermöglichen dem Westen - unter Umgehung Russlands - den Zugang zu den begehrten Rohstoffen des Kaspischen Meeres.

Transitland Georgien [Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 3.0-Lizenz,
Urheber: mario. Original uploader was Devil m25 at de.wikipedia]


Die Erdölreserven Aserbaidschans, das Land wird ebenfalls von einem "Musterdemokraten" regiert, taxiert man auf 952 Mio. Tonnen. Zum Vergleich: Das sind immerhin fast 12 Prozent der russischen Erdölreserven (die aserbaidschanischen Gasreserven fallen weniger ins Gewicht). Die geplante, durchs Kaspische Meer führende Verlängerung der Pipelines nach Turkmenistan darf man hierbei keinesfalls außer Acht lassen. Dadurch läge sogar Kasachstan in Reichweite, dessen Erdölreserven halb so groß sind wie die russischen. [1]

Die Umgehungsstrategie macht durchaus Sinn, denn Russland gilt, was die Einhaltung von Lieferverträgen angeht, spätestens seit dem Streit mit der Ukraine anno 2005 als unsicherer Kantonist. Gegenüber dem Westen sind die Energieexporte Russlands ein potentielles Erpressungsmittel, seit Putins Präsidentschaft werden dort Rohstoffe als strategische Güter angesehen, deren Verfügungsgewalt in staatlichen Händen zu liegen habe. Es ist daher einerseits aus westlicher Sicht rational, nach Alternativen in Bezug auf Lieferanten respektive Lieferrouten Ausschau zu halten, um das Erpressungspotenzial Russlands zu entschärfen. Andererseits ist es aus russischer Sicht genauso rational, dies so gut es geht zu verhindern. Die aktuelle Krise in Georgien ist deshalb eine höchst willkommene Gelegenheit.

Ohnehin fühlt sich die Russische Föderation seit dem Zerfall der Sowjetunion vom Westen zunehmend eingekreist. Der frühere, hauptsächlich auf militärischer Stärke beruhende Großmachtstatus ist gefährdet. Die Militärausgaben der USA erreichten laut SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) im Jahr 2007 die schier unvorstellbare Höhe von 547 Mrd. US-Dollar, Russlands Militärausgaben betrugen dagegen mit 35,4 Mrd. US-Dollar lediglich 6,5 Prozent davon. [2] Der russische Bär verliert langsam aber sicher seine Krallen - wenigstens gegenüber der westlichen Supermacht. Zudem haben die USA ihre Einflusssphäre peu à peu an Russland herangerückt, inzwischen sind alle ehemaligen Verbündeten des Warschauer Pakts (Bulgarien, DDR, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei und Ungarn) Mitglied der NATO.




Zunahme der Mitgliedsstaaten der NATO (blau) 1990 - 2004
[Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 3.0-Lizenz, Urheber: Arz]


Nach dem Willen der USA und Saakaschwilis soll demnächst auch Georgien zum westlichen Bündnis gehören - ein weiterer Mosaikstein, der die russischen Einkreisungsängste zu bestätigen scheint. Und objektiv betrachtet sind die Befürchtungen Russlands nicht unbegründet. Egal wer nun in Georgien mit den militärischen Kampfhandlungen begonnen hat (die Informationen hierzu sind widersprüchlich, offenbar hat Saakaschwilli zuerst losgeschlagen), als Zeichen aggressiver Großmachtpolitik oder gar als Renaissance des russischen Imperialismus darf man die Aktivitäten Moskaus nicht bewerten, vielmehr sind sie wohl eher defensiver Natur. Der letzte Rest an Einfluss, den die Russen jenseits ihrer Grenzen noch haben, soll möglichst erhalten bleiben.

Ob das Duo Medwedew/Putin Georgien erobern will, wie uns die Regierung in Tiflis einzureden versucht, ist fraglich. Viel wahrscheinlicher hingegen, dass Russland dem Anrainerstaat signalisieren möchte: bis hierhin und nicht weiter. Saakaschwilli bekommt, gleichzeitig als Signal an andere, eine Lektion erteilt. Außerdem will man damit eine Warnung an die NATO richten, welche Folgen es haben kann, wenn sie ihr Gebiet wirklich in die politisch instabile Kaukasusregion ausweitet. Sozusagen als Warnung vor dem scheinbar unberechenbaren Freund (Saakaschwili). Ob der georgische Staatschef jedoch tatsächlich aus dem Ruder lief, oder ob es sich bei der versuchten Invasion Südossetiens um ein insgeheim mit George W. Bush abgesprochenes Vorgehen handelte, bleibt vorerst im Dunkeln. Auszuschließen ist nichts.

Vor einer harten Konfrontation mit amerikanischen Interessen ist Russland jedenfalls bislang stets zurückgeschreckt. Das muss nicht immer so bleiben, allerdings kann sich Moskau momentan keinen heißen Konflikt mit Washington erlauben. Mit der nachhaltigen Sicherung des Status quo ante dürften sich die Russen daher am Ende zufrieden geben. Dies als Renaissance des russischen Imperialismus zu bezeichnen, führt in die Irre. Man muss den Status quo, der mit schweren Menschenrechtsverletzungen einhergeht, etwa in Tschetschenien, keineswegs billigen. Die USA sind freilich gerade in dieser Beziehung alles andere als ein Waisenknabe, man denke bloß an die auf faustdicken Lügen und völkerrechtswidriger Gewaltanwendung beruhende "Demokratisierung" à la Irak. Im Grunde geht es beiden um wirtschaftliche und geostrategische Interessen, die Menschen sind ihnen dabei eher gleichgültig.

Mit anderen Worten: Georgien ist nichts anderes als ein kleines Feld auf dem globalen Schachbrett der Machtpolitik. Und ob Michail Saakaschwili darauf ein Läufer oder lediglich ein Bauer ist, den man notfalls opfern kann, wird sich noch herausstellen.

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[1] Esso, Oeldorado 2008, Seite 7, PDF-Datei mit 1,7 MB
[2] AG Friedensforschung an der Uni Kassel, SIPRI Jahrbuch 2008