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19. September 2008, von Michael Schöfer
Krawattenhasser


Gibt es eigentlich etwas Lächerlicheres und Unbequemeres als ein Stück Stoff namens "Krawatte", das man sich gerne - zumindest in Kreisen, die etwas auf sich halten - um den Hals bindet? Wohl kaum. Dennoch ist die Krawatte vor allem im Geschäftsleben quasi Pflicht, denn sie soll Seriosität ausstrahlen. Und es wirkt sogar, die Leute fallen reihenweise darauf herein. Einem Banker ohne Krawatte würde kaum jemand Geld anvertrauen. Und ein Minister ohne Schlips war vor Joschka Fischers hessischen Zeiten absolut undenkbar (später, als Außenminister brav angepasst, bevorzugte auch er Nadelstreifenanzug mit Weste). Kein Wunder, wenn im Business und in der Politik so viele übers Ohr gehauen werden. Der meist bunte Stofffetzen vor dem Hemd ist nämlich, was die Ehrlichkeit angeht, vollkommen irrelevant. Doch das scheinen wir unbewusst zu ignorieren, nicht zuletzt deshalb tragen die erfolgreichsten Betrüger stets Anzug mit Krawatte.

Neuerdings gibt es zuweilen, um durchs Zurückfahren von Klimaanlagen Energie einzusparen, eine Entbindung von der sonst üblichen Krawatten-Pflicht. Stichwort: Cool Biz. Das ist vernünftig. Warum man dann aber nicht gleich ganz auf die Krawatte verzichtet, ist völlig unverständlich. Wenn etwa Politiker bei einem Staatsbesuch in Saudi-Arabien Krawatte tragen, dort sinkt im Hochsommer das Thermometer selbst nachts kaum unter 30-35 Grad, tagsüber sind Werte um 50 Grad und darüber normal, verdienen sie unser ganzes Mitleid. Blöd ist es trotzdem. Ohnehin kommt bei solchen Anlässen, Krawatte hin oder her, selten etwas Gescheites dabei heraus. Überdies sind Krawatten insbesondere beim Pinkeln und beim Schei... äußerst unpraktisch.

Aber ich will nicht ungerecht sein, die Krawatte hat zweifellos gewisse Vorzüge: Dicke Bäuche, das bilde ich mir jedenfalls ein, fallen dadurch weniger auf. Die Chancen bei der holden Weiblichkeit steigen also, der Kauf einer Krawatte ist mithin eine lohnende Investition und zudem wesentlich billiger als jede Weight-Watchers-Kur (von der Mühsal abzunehmen ganz zu schweigen). Oder ist sie gar ein wirksames Phallussymbol? Auch Selbstmörder wissen sie gelegentlich zu schätzen. Und wenn man Spaghetti mit Tomatensoße ißt, dient sie als hochwillkommenes Abwehrschild, auf unseren Hemden bleibt dann eine signifikant kleinere Anzahl roter Flecken zurück. Das ist - beiläufig erwähnt - vermutlich auch der Grund, weshalb schmale Krawatten inzwischen total out sind. Hohe Krawattenkunst ist übrigens, sie morgens farblich nach dem jeweils angebotenen Kantinenmenü auszuwählen (dunkelgrün bei Spinat, weinrot bei Rotkraut, gelb bei Würstchen mit Senf usw.). Doch Vorsicht, sofern man sich am Essenstisch selbst bedienen muss, landet sie nicht selten im Suppenteller. Dann hat man den, äh..., Salat.

Nein, ungeachtet der zuletzt genannten Vorzüge muss ich mich hier als Krawattenhasser outen. Aber das haben Sie bestimmt schon gemerkt.