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24. Oktober 2008, von Michael Schöfer
14 aufschlussreiche Tage


Können Sie sich vorstellen, wie schrecklich mir zumute war? Fragen über Fragen: Wie konnte Deutschland innerhalb von ein paar Tagen zur sozialistischen Volksrepublik mutieren? Auf welcher Rechtsgrundlage hat Peter Sodann Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann verhaften lassen? Stürzt Oskar Lafontaine demnächst Angela Merkel und wird endlich selbst Bundeskanzler? Oder ruft diese neuerdings, zur Rettung ihres Amtes und in Nachahmung des kubanische "maximo lider" Fidel Castro, am Ende jeder Rede theatralisch "socialismo o muerte" (Sozialismus oder Tod)? Trägt Bundesinnenminister Schäuble mittlerweile Che Guevara-T-Shirts und nennt sich "Comandante Wolfgang"? Was drohte noch? Mir schwebte das Schicksal des Kosmonauten Sergei Konstantinowitsch Krikaljow vor Augen, der als sowjetischer Bürger gestartet und als Russe zurückgekehrt war - 1991 erlebte er auf der Raumstation "Mir" in fast 400 km Höhe, folglich ohne eingreifen zu können, den Zusammenbruch der Sowjetunion. Sollte es mir genauso ergehen (bloß eben umgekehrt, vom Kapitalismus zum Sozialismus)? In zwei Wochen kann tatsächlich viel passieren. Aber sooo viel?

Doch eins nach dem anderen. In den vergangenen Wochen gönnte ich mir endlich mal wieder 14 Tage Urlaub: Sonne, weißer Sandstrand, blaues Meer, 29 Grad warmes Wasser, unter Palmen schlafen... Phantastisch. Es war wirklich so schön, wie es auf dem Bild aussieht.


[Bild: Michael Schöfer]

Leider war ich am Urlaubsort fast ganz von jeglicher Information abgeschnitten. Und das ausgerechnet während der schwelenden Finanzkrise. Dort, wo ich war, gab es noch nicht einmal die BILD-Zeitung - obgleich ich die sogar unter derart schlimmen Bedingungen keinesfalls kaufen würde, das gebietet mir schon allein meine Selbstachtung. Nachrichtenarme Zeit also. Nur die Deutsche Welle strahlte jeden Tag via Satellit Nachrichten in Deutsch aus. In der ersten Woche habe ich allerdings nicht eine einzige Sendung gesehen, schließlich will man im Urlaub nicht vor der Glotze sitzen. Am Strand gefiel es mir wesentlich besser.

Als ich mir dann Anfang der zweiten Woche (am 13.10.2008) erstmals die Nachrichten ansah, stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel gerade das 500 Milliarden-Rettungspaket vor, ihre Rede wurde live übertragen. Am Tag zuvor beschlossen die Staats- und Regierungschefs der 15 Euro-Länder, einen Schutzschirm für ihr gesamtes Bankensystem einzurichten. Wow, dachte ich, da wird die Hütte wohl lichterloh brennen, immerhin hatte Merkel ein Rettungspaket à la USA noch kurz vorher entschieden abgelehnt: "Nach dem 35-Milliarden-Rettungspaket für den Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate (HRE) lehnte es Merkel ab, allen deutschen Banken vorab umfassende staatliche Hilfe für den Notfall zuzusichern. 'Der Bund kann und will keinen Blankoscheck für alle Banken ausstellen - egal, ob sie sich verantwortungsvoll verhalten oder nicht', sagte sie." Auch in der Europäische Union sei ein solches nicht vorgesehen, hieß es. "In der EU gibt es nach Angaben der Bundesregierung keine Pläne für ein europäisches Rettungspaket nach dem Vorbild der USA. 'Ich kenne aktuell niemanden, der ernsthaft so ein europäisches Modell vorschlägt', sagte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg." [1]

Anfang Oktober verlautete zudem vom Pariser Krisengipfel mit den Regierungschefs aus Deutschland, Großbritannien, Italien und Frankreich: "Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde hatte Mitte der Woche einen EU-Hilfsfonds für Banken ins Gespräch gebracht. Nach dem kategorischen 'Nein' aus Berlin ist die Idee aber vom Tisch. Die Bundesregierung setzte am Wochenende nach. Ein 'Notfallplan für Europa, der aktuell von Bankenseite ins Gespräch gebracht wurde, lenkt von der eigentlich Aufgabe ab', sagte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) der 'Bild am Sonntag'." [2]

Warum auf einmal dieser abrupte Sinneswandel, fragte ich mich. Ob eine weitere Großbank Pleite gemacht hat? Hoffentlich wird es meine Hausbank nach der Rückkehr aus dem Urlaub noch geben, dachte ich besorgt. Vom Auslöser, dem dramatischen Absturz der Börsenkurse an den internationalen Aktienmärkten, wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts. Nichtwissen kann zuweilen ziemlich segensreich sein. Mitten im Urlaub von einem Schwarzen Freitag überrascht zu werden, vermiest einem das schönste Wetter. Vor allem, wenn man dem Ganzen am Urlaubsort absolut hilflos ausgeliefert ist. Etwas machen, z.B. noch rasch Geld abheben und unter das Kopfkissen stecken, ist ja unmöglich. Doch die gezwungenermaßen eingeschränkte Kenntnisnahme von Nachrichten hat manchmal auch ihre Vorteile, denn man konzentriert sich dabei aufs Wesentliche - und reibt sich, aufmerksam geworden, verwundert die Augen. Wie bei der eleganten 180-Grad-Wende der Bundeskanzlerin.

So verfolgte ich etwa kurz eine Diskussion mit dem ehemaligen Finanzminister Hans Eichel (bei Johannes B. Kerner), der sich mächtig über die grenzenlose Gier und die risikoreichen Produkte der Banker aufgeregte. Man hätte das unterbinden müssen, rief er empört, und man sehe ja, wohin wir damit gekommen seien. Wie bitte? Ausgerechnet Hans Eichel, unter dessen Federführung der deutsche Finanzmarkt drastisch dereguliert wurde? Alles zur Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit des hiesigen Finanzplatzes, versteht sich. [3] Eigenwerbung Bundesministerium der Finanzen: "Durch das am 1. Januar 2004 in Kraft getretene Investmentmodernisierungsgesetz wurden neue EU-Vorschriften für Investmentfonds in nationales Recht umgesetzt und das deutsche Investmentrecht grundlegend modernisiert. Das Investmentgesetz war die Grundlage für die Einführung von Hedgefonds in Deutschland und eröffnete damit den direkten Zugang für deutsche Anleger zu diesem innovativen Produkt. Grundlage des Vorhabens war ein liberaler Ansatz, der zugleich einen umfassenden und effektiven Anlegerschutz für die Bürgerinnen und Bürger gewährleistet." [4] Mir drängte sich beim Zusehen zwangsläufig der Eindruck auf: Der Brandstifter spielt den Feuerwehrmann. Es erhob sich bedauerlicherweise kein Widerspruch, niemand hielt Hans Eichel sein fatales Wirken vor. Großes Wunder: Plötzlich wollen alle schon immer für die umfassende Regulierung der Finanzmärkte eingetreten sein. Verlogene Wendehälse! Noch vor einem Vierteljahr hätten sie Oskar Lafontaine wegen der Forderung nach einer Teilverstaatlichung der Banken ans neoliberale Kreuz genagelt, jetzt stößt dieser Schritt sogar bei der FDP auf Zustimmung.

In einer anderen Sendung, keine Ahnung welcher, so sporadisch war mein Fernsehkonsum, fragte der Moderator: "Warum hat uns niemand vor den Risiken der Finanzmärkte gewarnt?" Mir stieg die Galle hoch, der gute Mann hat offenbar die letzten 30 Jahre total verschlafen, denn mindestens solange warnen alternative Ökonomen und die Gewerkschaften vor den negativen Folgen der Finanzspekulation. Bloß hat ihnen keiner geglaubt. Nun haben wir den Salat. Wahrscheinlich hat dieser Journalist nur den Unsinn des neoliberalen Mainstreams zur Kenntnis genommen und den ideologisch verbohrten deutschen Ökonomieprofessoren an den Lippen gehangen anstatt einmal selbst kritisch nachzudenken. Dass ein Crash auf den von der Realwirtschaft abgekoppelten Finanzmärkten unausweichlich ist, pfiffen die Spatzen doch schon seit langem von den Dächern: "Zwischen 1979 und 1994 hat der grenzüberschreitende Handel mit Waren und Dienstleistungen um 134 % zugenommen, der Handel mit Devisen allerdings um ein Vielfaches, nämlich um 833 %. Der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zufolge wurden 1996 an einem durchschnittlichen Tag Devisenumsätze in Höhe von 1,25 Billionen US-$ getätigt, der Welthandel hatte im gesamten Jahr 1996 jedoch nur ein Volumen von 5,35 Billionen. Die internationalen Devisentransaktionen waren folglich rund 85mal so stark wie die realwirtschaftlichen Vorgänge, denen sie eigentlich zugrunde liegen sollten. Und bei 80 % der Devisengeschäfte finden Kauf und Verkauf innerhalb von maximal sieben Tagen statt. Kurz und gut: Heute dient der überwiegende Teil des Handels mit Währungen der reinen Spekulation." [5] Hinweise, die lediglich eine kleine Minderheit nachdenklich machten.

Überrascht war ich ebenso, dass jetzt sogar ein Konjunkturprogramm beabsichtigt ist (es darf bloß nicht "Konjunkturprogramm" heißen). Bislang war das fast ausschließlich eine Forderung der Linken. Laut Bundesfinanzminister Steinbrück (SPD) werde damit nur "Geld verbrannt". [6] "Auf der Ebene der Regierung wird an einem solchen Konzept nicht gearbeitet", versicherte CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla. "Es gibt keine Notwendigkeit, über ein solches Programm überhaupt nur zu diskutieren." [7] Derartige Äußerungen fielen vor wenigen Wochen, nicht vor etlichen Jahren.

Der absolute Aufreger war für mich aber die Sendung "Anne Will", in der es u.a. um die Begrenzung der Managergehälter ging (eine Auflage des Merkel'schen Rettungspakets). Die Diskussionsteilnehmer verurteilten unisono die maßlose Gier der Manager und beklagten die zurückgehenden Realeinkommen der Arbeitnehmer. Hoppla, habe ich da etwas versäumt? Hatte es nicht jahrelang - und zwar haargenau von Leuten eben jener Couleur (rühmliche Ausnahmen: MdB Ottmar Schreiner und Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband) - geheißen, wir bräuchten in Deutschland mehr "Lohnspreizung" bzw. "Lohnzurückhaltung"? Mit anderen Worten: Verbreiterung der Kluft zwischen Arm und Reich, Ausweitung des Niedriglohnsektors, sinkende Reallöhne etc. Original-Ton des 1. Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Norbert Röttgen, am 3. Mai 2007 (Worte, die heute wie wie aus einer anderen, irrealen Welt erscheinen): "Wir leben endlich wieder in wirtschaftlich glücklichen Jahren. Am meisten durch die Arbeitnehmer, durch Lohnzurückhaltung, durch Unternehmen, die sich neu organisiert haben, und durch die Vorteile, die die Globalisierung uns bringt. Die Große Koalition hat begonnen, den Aufschwung in unserem Land zu stabilisieren." [8]

Und bezeichnete man die Forderung nach Begrenzung der Managergehälter nicht jahrelang als reinen Populismus? Ich erinnerte mich an frühere Aussagen: "Die SPD-Pläne zur Begrenzung von Managergehältern und Abfindungen stoßen in der Union auf massive Ablehnung." So hieß es zumindest noch vor einem halben Jahr. "CDU/CSU-Bundestagsfraktionschef Volker Kauder, Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff, Unions-Fraktionsvize Michael Meister (beide CDU) und CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer lehnen eine staatliche Begrenzung der Managerbezüge strikt ab. (...) Unternehmen müssten selbst entscheiden, welche Gehälter sie zahlen, sagte Kauder. (...) Auch Wulff betonte in der 'Süddeutschen Zeitung': 'Der Staat muss endlich der Versuchung widerstehen, sich in alles mehr als nötig einzumischen, ansonsten bekommt der Standort Deutschland einen Imageschaden.' (...) Ramsauer stellte in der 'Berliner Zeitung' klar: 'Das wird es mit uns nie geben.' Über die Bezahlung von Angestellten befänden immer noch die Eigentümer von Unternehmen. Wenn der Staat anfange, in die Gewinn- und Verlustrechnung von Unternehmen hineinzurechnen und in moralisch gute und schlechte Aufwendungen einzuteilen, höre der Spaß auf." [9] Alles frei nach Konrad Adenauer "Geschwätz von gestern", das heute nicht mehr interessiert? Was wohl die Wähler, angeblich mit einem kurzen Gedächtnis ausgestattet, dazu sagen?

Sie werden jetzt vermutlich verstehen, warum ich froh war, dass mein Urlaub nur 14 Tage dauerte. Unter Umständen hätte ich nämlich die Bundesrepublik nach längerer Abwesenheit nicht mehr wiedererkannt. So kam ich gerade noch rechtzeitig zurück, um den dramatischen Linksruck aus nächster Nähe weiter mitverfolgen zu können. Bundespräsident Roman Herzogs Forderung vom 26. April 1997, "durch Deutschland muss ein Ruck gehen", hat sich dank Genossin Merkel endlich erfüllt.


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[1] Frankfurter Rundschau vom 02.10.2008
[2] Handelsblatt vom 05.10.2008
[3] siehe u.a. Premium-Presse vom 06.03.2003
[4] BMF, Geld und Kredit vom 31.08.2005
[5] siehe Crisis. What crisis? vom 29.09.1998
[6] Tagesspiegel vom 12.09.2008
[7] Spiegel-Online vom 28.07.2008
[8] Homepage von Norbert Röttgen
[9] Focus vom 28.04.2008