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02. November 2008, von Michael Schöfer
Vorurteil oder realistische Einschätzung?


Beteuerungen, der Islam sei eigentlich eine tolerante Religion, wird heutzutage kaum noch geglaubt. Die Zeiten, in denen das tatsächlich zutraf, etwa zwischen 711 und 1492 in Andalusien (al-Andalus), sind längst vorbei. Das gilt ebenso für die Blütezeit der islamischen Wissenschaft, zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Während sich der Westen in den vergangenen Jahrhunderten peu à peu von der Religion emanzipierte (Säkularisierung) und die Wissenschaft ungeheure Fortschritte machte, dominiert gegenwärtig im Islam eine rigide Auslegung der Religion. Augenblicklich ist dort jede Diskussion über eine andere Interpretation des Glaubens de facto undurchführbar, weil sie nur unter Lebensgefahr möglich wäre und dadurch schon im Keim erstickt wird. Von Presse- und Meinungsfreiheit kann man, insbesondere in den arabischen Staaten, der Geburtsregion des Islam, nur träumen. Es ist also keineswegs nur eine radikale Minderheit von Fundamentalisten, die jede interpretatorische Auseinandersetzung unterbindet. Das hat weitreichende Folgen für den Islam selbst.

Dem UNESCO-Weltbildungsbericht 2008 zufolge gibt es momentan weltweit 774 Millionen Erwachsene, die nicht lesen und schreiben können. Bei der Alphabetisierungsrate der Erwachsenen, also denjenigen, die lesen und schreiben können, liegen die arabischen Staaten zur Zeit mit 71 Prozent auf dem drittschlechtesten Platz - hinter Süd- und Westasien bzw. Afrika südlich der Sahara mit jeweils 59 Prozent. Fairerweise muss allerdings hinzugefügt werden, dass die arabischen Staaten hierbei deutliche Fortschritte machen. [1] Ähnliche Ergebnisse liefert der UNDP Human Development Report 2007/2008, der für den Zeitraum von 1995 bis 2005 folgende Analphabetenraten ausweist.

Anteil der Analphabeten über 15 Jahre (1995 - 2005) [2]
Südasien 40,5 %
Afrika (Sub-Sahara) 39,7 %
arabische Staaten 29,7 %
Lateinamerika & Karibik 9,7 %
Ostasien & Pazifik 9,3 %
Europa & ehem. GUS 1,0 %



Kein Wunder, wenn sich die arabischen Staaten, was die wissenschaftlich-industrielle Entwicklung angeht, auf den hinteren Plätzen wiederfinden. Im Zeitraum von 1980 bis 1999 haben sie lediglich 171 internationale Patente angemeldet - im gleichen Zeitraum ließ allein Südkorea 16.328 Patente registrieren. Die Firma Hewlett-Pakcard lässt am Tag (!) durchschnittlich elf Patente eintragen. Wenig überraschend: "In den arabischen Ländern kommen auf eine Million Menschen 371 Wissenschaftler und Ingenieure, die im Bereich Forschung und Entwicklung tätig sind - der weltweite Durchschnitt, einschließlich der afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Länder, liegt bei 979." [3] "Die arabischen Staaten würden im Schnitt weniger als 0,2 Prozent ihrer nationalen Budgets für Forschung und Entwicklung ausgeben, das sei gerade bei den ölreichen Golfstaaten ein unverständliches Versäumnis", beklagt Farouk El-Baz, "ein ägyptisch-amerikanischer Geologe, der die Staaten des Golfkooperationsrates (Bahrain, Kuwait, Oman, Qatar, Saudi-Arabien und die VAE) schon lange Jahre beim Aufbau einer eigenen Wissensinfrastruktur berät." [4] Zum Vergleich: "Im Jahr 2005 wurden in Deutschland 55,7 Mrd. Euro für die Durchführung von Forschung und Entwicklung ausgegeben." Das waren 2,48 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. [5]

Folglich hat Arabien weder bei der Industrieproduktion noch beim Welthandel, ausgenommen natürlich als Exporteur von Öl und Gas, einen nennenswerten Anteil. So kamen die Länder des Nahen Ostens (inkl. Israel) 2005 nur auf magere 3,9 Prozent aller Weltexporte. [6] Bezeichnend für die desolate Situation ist Dubai, ein Emirat der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), das sich bereits intensiv auf die Zeit nach dem Öl vorbereitet: "Aktuellen Statistiken zufolge arbeiten in Dubai nur vier Prozent der einheimischen Bevölkerung. Der Rest lebt von Zinsen, Finanzgeschäften, Beteiligungen, Familienvermögen, Erbschaften oder vom Staat. Da ist es klar, dass der Drang, auf Bildung und Wissenserwerb als Grundlage einer erfolgreichen Berufskarriere zu setzen, gering bleibt." [7]

Man stelle sich eine Welt vor, in der es nur islamische Staaten gäbe - es wäre eine ohne Flugzeug- und Automobilindustrie, eine ohne Haushaltsgeräte (Waschmaschinen, Kühlschränke, Mikrowellenherde etc.) und Kommunikationsmittel (Telefon, Faxgeräte, Handys etc.), eine ohne Unterhaltungselektronik (Radio- und Fernsehgeräte, DVD-Player, Stereoanlagen etc.) und Computer. Nichts davon wird, jedenfalls in relevanten Größenordnungen, in den islamisch geprägten Ländern entwickelt bzw. hergestellt. (Verlängerte Werkbänke der westlichen Industrieunternehmen zählen nicht wirklich.) Auch Teilchenbeschleuniger, wie der Large Hadron Collider am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf, wären nie Realität geworden.

Das Geld, das die Araber für ihr Erdöl einnahmen, kam offenkundig keinerlei industrieller Entwicklung zugute. Dies zeigt, wie weit mittlerweile die einst wissenschaftlich führenden Länder des Islam zurückgefallen sind. Dafür jedoch die Nachwehen der Kreuzzüge verantwortlich zu machen, eine in den arabischen Staaten häufig anzutreffende Ausrede, ist allzu bequem. Schließlich sind diese, durchgeführt in der Zeit von 1096 bis 1396, seit mindestens 600 Jahren Vergangenheit. Anderen die Schuld zuzuschieben kompensiert zwar das Unterlegenheitsgefühl der Araber, hat aber mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun. In der Konsequenz wird dadurch bloß die kritische Bestandsaufnahme der eigenen gesellschaftlichen Entwicklung verhindert.

Worin liegt die Ursache? Meiner Meinung nach in einer ausgeprägten Intoleranz. Dort, wo jede gesellschaftliche Veränderung unterbunden wird, zumindest soweit sie der Religion und der daraus resultierenden Tradition widerspricht, kann sich keine geistig fruchtbare Grundlage für Wissenschaft und Industrie bilden. Nehmen wir ein Beispiel aus dem christlichen Europa, an dem klar wird, wohin geistige Isolierung und Unterdrückung führen kann. Das katholische Spanien war nach der Entdeckung Amerikas kurze Zeit die führende und reichste Weltmacht, hat diese Stellung aber durch eigene Schuld verloren.

Auf die Reformation reagierten die katholischen Länder mit Abschottung und Zensur. "Verboten wurde nicht nur, Ketzereien in irgendeiner Sprache zu veröffentlichen, sondern auch, sie zu lesen. (...) Im Jahre 1558 wurde [in Spanien] für die unerlaubte Einfuhr ausländischer Bücher und für das ungenehmigte Drucken von Büchern die Todesstrafe eingeführt." 1559 verbot die spanische Krone, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Besuch ausländischer Universitäten. "Die Auswirkungen waren drastisch. Spanische Studenten waren seit langem an die Universität von Montpellier gegangen, um dort Medizin zu studieren; damit war es jäh vorbei - von 1510 bis 1559 hatte die Zahl der spanischen Studenten 248 betragen, von 1560 bis 1599 waren es nur noch 12. (...) Naturforscher mit subversiven Lehren wurden zum Schweigen gebracht und zum Widerruf gezwungen. (...) So verpasste die Iberische Halbinsel und in der Tat das ganze mittelmeerische Europa den Anschluss an die sogenannte Revolution der Wissenschaft." [8] Zuvor hatte man nach Abschluss der Reconquista (1492) die Juden, den traditionell überdurchschnittlich gebildeten Bevölkerungsanteil, zwangschristianisiert, vertrieben oder kurzerhand umgebracht. [9] Eine für Wirtschaft und Kultur folgenschwere Maßnahme. Dies lässt sich durchaus auf die islamischen Staaten übertragen.

Welch geistiges Klima derzeit im Islam herrscht, zeigen folgende Meldungen: In Indonesien verabschiedete das Parlament "ein Gesetz, das alles unter Strafe stellt, was öffentlich sexuelle Lust erregt oder gegen die Moralnorm verstößt. (...) Offiziell wollte man die Pornografie verbieten. (...) Was Pornografie ist, wird nicht präzise definiert und schafft Unsicherheit." Nach Protesten wurde der Gesetzentwurf entschärft. "Ursprünglich sollten Küsse in der Öffentlichkeit verboten und oraler, homosexueller und außerehelicher Sex mit bis zu zwölf Jahren Haft bestraft werden." [10] Bislang galt der Inselstaat als Musterbeispiel gelebter Toleranz.

In Saudi-Arabien erläuterte Scheich Saleh al-Lihedan, Chefrichter des Obersten Gerichtshofes von Saudi-Arabien, die Haltung des Islam zu schlechten Fernsehprogrammen: "Es ist erlaubt, die Besitzer solcher Satellitenkanäle zu töten." Seitdem fürchten Besitzer und Mitarbeiter der Sender um ihr Leben. "Die jüngste Fernsehfatwa traf gar Walt Disneys Micky Maus. 'Die Scharia fordert die Ausrottung aller Mäuse, das gilt für lebende Mäuse genauso wie für die berühmte Comic-Maus' dekretierte der saudische Scheich Muhammed Munajid im Al-Majd TV: 'Sie alle sind Soldaten des Satans.'" [11]

Der afghanische Journalist "Parvez Kaambakhsh hat vor einem Berufungsgericht in Kabul erreicht, dass eine gegen ihn verhängte Todesstrafe in eine Haftstrafe von 20 Jahren umgewandelt wird. (...) Kaambakhsh war den Angaben zufolge im Januar 'wegen Angriff und Beleidigung des Heiligen Propheten sowie wegen vorsätzlicher Verfälschung von Koran-Versen' zum Tode verurteilt worden." [12] Was wurde ihm vorgeworfen? "Der 24-jähirge Journalistik-Student soll aus dem Internet einen Text heruntergeladen und verbreitet haben, der die Rechte von Frauen im Islam kritisiert." Außerdem soll er kritische Fragen zum Islam gestellt haben. [13] Und das wohlgemerkt nicht im Afghanistan der Taliban, sondern im Afghanistan Hamid Karzais.

Sogar in der vergleichsweise liberalen Türkei wird ähnlich gehandelt: "Im vergangenen Jahr haben die türkischen Behörden mehr als 1100 Internetseiten gesperrt. Rund 800 Seiten sind ständig blockiert. So ist YouTube seit über sechs Monaten gesperrt, weil in einigen Videos angeblich der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk beleidigt wird. 'Beleidigung Atatürks' ist in der Türkei ein Straftatbestand. Jetzt will die Regierung ihr Instrumentarium zur Zensur des Internets weiter 'verfeinern', um missliebige Inhalte auszumerzen. (...) Bereits im Frühjahr hatte die Regierung ein Gesetz verabschiedet, das es der zuständigen Aufsichtsbehörde ermöglicht, auf eine Beschwerde hin Internetseiten zu sperren. Zuvor bedurfte es dazu eines Gerichtsbeschlusses oder einer Anordnung der Staatsanwaltschaft. Verkehrsminister Yildirim begründete die Zensurpraxis jetzt mit dem 'Kampf gegen Elemente, die auf eine Entartung der Gesellschaft hinarbeiten und die Jugend zu vergiften versuchen.'" [14]

Hinzu kommt die jegliche Humanität vermissende Realität des Alltags: "Dass eine 16-Jährige Sex vor der Ehe hat, ist in Deutschland fast zur Norm geworden. In Ländern, in denen islamisches Recht gilt, wird dieses Verhalten im Gegensatz als 'unkeusch' angesehen und bestraft. Im Iran sogar mit dem Tod. So musste Atefeh Rajabi Sahaaleh Verstöße gegen die Sitten mit ihrem Leben büßen. Die junge Iranerin wurde am 15. August 2004 in der Provinzstadt Neka im Norden des Landes erhängt. (...) Unter Foltern gab sie zu, mit einem 51-jährigen Taxifahrer mehrmals Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Dabei war sie vom ehemaligen Wächter der Revolutionsarmee vergewaltigt worden. Wegen vielfachen Verbrechen gegen die Sittlichkeit wurde die 16-Jährige angeklagt. Ohne Anwalt musste sie sich gegen die Anschuldigungen verteidigen. Als das Gericht den Missbrauch als Verführung ihrerseits deutete, verlor sie die Fassung, schrie den Richter an und warf sogar einen Schuh nach ihm. Dies wurde ihr zum Verhängnis. Sie wurde zum Tod verurteilt. Da Minderjährige im Iran diese Strafe nicht erhalten dürfen, erklärte das Gericht sie kurzerhand zur 22-Jährigen. Am frühen Morgen des 15. Augusts wurde sie öffentlich an einem Baukran erhängt und starb so eines qualvollen Tods." [15]

"Ein 13-jähriges Mädchen in Somalia ist nach Angaben von Amnesty International unter dem Vorwurf des außerehelichen Geschlechtsverkehrs gesteinigt worden. Aisha sei einen schrecklichen Tod gestorben, erklärte die Menschenrechtsorganisation (...) unter Berufung auf Augenzeugen. Das Mädchen hatte angegeben, von drei Männern vergewaltigt worden zu sein. Die islamische Miliz, die die Stadt Kismayo kontrolliert, verurteilte sie laut Amnesty aber wegen Sex außerhalb der Ehe." [16]

Wird hier ein Zerrbild des Islam gezeichnet? Wohl kaum, denn derartige Grausamkeiten sind bedauerlicherweise keine Ausnahme. Gleichwohl ist nicht jeder Moslem ein Anhänger von brutaler Gewalt oder gar ein Terrorist. Es soll hier lediglich herausgearbeitet werden, wie die Situation in den islamischen Ländern tatsächlich aussieht. Fazit: Die gegenwärtig praktizierte Kultur des Islam ist mit der Demokratie unvereinbar. Darüber, ob der Islam überhaupt jemals mit ihr in Einklang zu bringen ist, streiten noch die Gelehrten. Es gibt Stimmen, die das bejahen, allerdings auch solche, die das kategorisch in Abrede stellen. Dennoch, der Dialog mit dem Islam, der hierzulande über die von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) initiierte "Deutsche Islamkonferenz" erfolgt, ist vom Grundsatz her richtig. Freilich kann dabei am Ende nur die Anerkennung unserer Grundwerte (Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit, Gewaltmonopol des Staates, Gleichstellung der Frau, Trennung von Staat und Religion etc.) herauskommen, anders ist eine gelungene Integration undenkbar. Doch bis dahin ist es noch ein langer und steiniger Weg.

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[1] Unesco, Kurzfassung des Weltbildungsberichts 2008, Seite 8, PDF-Datei mit 1,9 MB
[2] UNDP, Human Development Report 2007/2008, Seite 232, PDF-Datei mit 12,3 MB
[3] Thomas L. Friedman, Die Welt ist flach, Frankfurt am Main 2006, Seite 675
[4] economyaustria.at, Arno Maierbrugger Dubai/VAE, Economy-Printausgabe, 15.8.2008
[5] Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bundesbericht Forschung und Innovation 2008, Seite 474, PDF-Datei mit 11,2 MB
[6] Fischer Weltalmanach 2008, Seite 691
[7] economyaustria.at, a.a.O.
[8] David S. Landes, Wohlstand und Armut der Nationen, Berlin 2002, Seite 198 f
[9] vgl. Wikipedia, Alhambra-Edikt
[10] Frankfurter Rundschau vom 31.10.2008
[11] Frankfurter Rundschau vom 16.10.2008
[12] Fuldaer Zeitung vom 21.10.2008
[13] Deutsche Welle vom 25.10.2008
[14] Frankfurter Rundschau vom 31.10.2008
[15] 3sat vom 23.09.2008
[16] Spiegel-Online vom 01.11.2008