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07. November 2008, von Michael Schöfer
Übermenschliche Erwartungen


Ein neuer Messias ist geboren; der Weltenretter, mit dem alles gut werden soll; einer, der wie Atlas dazu verurteilt ist, den Himmel auf seinen Schultern zu tragen: Barack Obama. Amerika hat das geschafft, was in Deutschland neuerdings regelmäßig schief geht: Während wir unsere Hoffnungsträger, zum Beispiel Andrea Ypsilanti, gnadenlos niederschreiben und sogar von den eigenen Partei"freunden" in einer absolut ekelerregenden Art und Weise abmeiern lassen, erfindet sich Amerika immer wieder aufs Neue. Wie man trotz aller Krisen (McCarthy-Ära, Watergate, George W. Bushs Anti-Terror-Kampf etc.) die Demokratie bewahrt, und das seit 1776 - von den Amerikanern kann man es lernen. Einfach bewundernswert. Die Präsidentschaftswahl 2008 hat gezeigt: Die USA stehen nach wie vor zu ihren bereits von den Gründervätern propagierten Prinzipien, wenngleich die politische Praxis häufig anders aussieht. Leider. Aber was ist schon vollkommen? Nichts. Auch Barack Obama nicht. Und das ist der Knackpunkt.

Sein Vorgänger hinterlässt ein ökonomisch, militärisch und insbesondere moralisch daniederliegendes Land. Vor diesem Hintergrund leuchtet die Lichtgestalt Obama natürlich umso mehr. Gewiss, er ist ein blendender Rhetoriker, der es scheinbar mühelos schafft, seine Zuhörer zu begeistern. Obamas in Chicago am Wahlabend gehaltene Rede hatte zweifellos Format. Deutsche, die mit Horst Köhler und Angela Merkel vorliebnehmen müssen, können da nur neidisch werden. Doch gerade jetzt ist es notwendig, einen kräftigen Schuss Wasser in den Wein der Euphorie zu gießen. Selbst wenn Obama ein Linker wäre, was er, jedenfalls nach deutschen Maßstäben, nicht ist (er befürwortet beispielsweise die Todesstrafe), kann er die in ihn gesetzten Erwartungen gar nicht erfüllen. Was haben wir nicht alles lesen und hören müssen: Obama rettet das Weltklima, Obama bringt Abrüstung und Frieden, Obama kurbelt die Wirtschaft an, Obama bekämpft die Staatsverschuldung, Obama erlöst die Armen aus ihrem Elend, Obama macht den Kapitalismus menschlich. Sämtliche Wünsche werden auf ihn projiziert. Selbst in Kenia, der Heimat seines Vaters, versprechen sich die Menschen positive Effekte. Das ist natürlich vollkommen unrealistisch, dem kann keiner gerecht werden. Daran gemessen kann er eigentlich nur scheitern.

Was will Obama wirklich? Und was kann er mit seinen bislang vorgestellten Konzepten tatsächlich erreichen? Ich glaube, so richtig wissen das die wenigsten. Da schwingt zwar viel Gefühl mit (Hauptsache George W. Bush ist endlich weg), doch das allein ist angesichts der riesigen Probleme, vor denen die Welt steht, keinesfalls ausreichend. Außerdem: Der "militärisch-industrielle Komplex" (Dwight D. Eisenhower) wird sich gewiss zu wehren wissen, das Establishment will nämlich weder "change" noch ruft es enthusiastisch "yes, we can!". Weder in den USA noch in Europa (wo die Mehrheit ohnehin Silvio Berlusconi, Nicolas Sarkozy und Anders Fogh Rasmussen wählt). Man sollte daher die Beharrungskräfte nicht unterschätzen, schließlich ist ein US-Präsident alles andere als allmächtig. Es wäre nicht das erste Mal, dass große Pläne im alltäglichen Klein-Klein schnell zerplatzen. Auch die Bilanz von John F. Kennedy, der früheren Lichtgestalt der Amerikaner, ist genau betrachtet ziemlich durchwachsen. Deshalb: Warten wir erst einmal in Ruhe ab, wie sich das Ganze entwickelt. Das ist keine defätistische Haltung, sondern lediglich ein Aufruf zur Besonnenheit. Barack Obama ist gewählt. Und das ist gut so. Er hat vorerst unsere ungeteilte Sympathie (über 74 Prozent der Deutschen hätten ihn ebenfalls gewählt), aber es gibt keinen Anlass, in ihm den neuen Messias oder den Weltenretter zu sehen.