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30. November 2008, von Michael Schöfer
Reine Ideologie!


Deutschland verhält sich eindeutig parasitär: Anstatt den zurückgehenden Export durch eine kräftigte Ankurbelung des Binnenmarkts zu kompensieren, brüstet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit einem Konjunktur-Päckchen in Höhe von 32 Mrd. Euro. Das sind lächerliche 1,32 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts (2007: 2.422,9 Mrd. Euro). Ganz anders China. Nachdem Peking kürzlich ein Konjunkturprogramm in Höhe von 470 Mrd. Euro angekündigt hat, sollen die zur Verfügung stehenden Mittel durch Initiativen regionaler Regierungen um weitere 1,2 Bio. Euro wachsen. [1] Das wären dann insgesamt 1,67 Bio. Euro bzw. 68,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (2007: 2.426 Mrd. Euro). [2] Das Reich der Mitte handelt antizyklisch und damit mustergültig keynesianistisch.

Die Chinesen sind sich offenbar bewusst, dass sie sich bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise nicht auf ihre gewaltigen Außenhandelsüberschüsse verlassen dürfen. Die Welthandelsbilanz ist stets ausgeglichen. Mit anderen Worten: Sie hat die Größe null. Handelsbilanzüberschüsse bestimmter Staaten stehen daher zwangsläufig Handelsbilanzdefizite anderer Staaten gegenüber. Deutschland ist seit Jahren Exportweltmeister, hat demzufolge in der Vergangenheit nicht unerheblich vom Ausland profitiert. Sich jetzt, in der Krise, bei der Ankurbelung der Wirtschaft zurückzuhalten, setzt diesen fatalen Kurs, der sich im Wesentlichen auf die Exporterfolge konzentriert, de facto fort. Merkels Konjunktur-Päckchen ist Augenwischerei. Die Handelspartner Deutschlands werden sich gewiss bedanken. Ob sie sich das allerdings noch lange gefallen lassen, ist fraglich. Wer sich immer auf andere verlässt, könnte schon bald ziemlich verlassen dastehen. Schuld ist natürlich die Ideologie der Bundesregierung, die innerhalb der Grenzen des neoliberalen Denkmusters verweilt.

Es wird zwar viel angekündigt, aber fast kaum gehandelt. So sollen etwa die Bürger spürbar entlastet werden. Über das Wie wird seit Wochen spekuliert. Sollen Steuerschecks verteilt werden? Gibt es Steuersenkungen? Und wenn ja, wird die Mehrwert- oder die Einkommensteuer gesenkt? Wird die Pendlerpauschale wieder ab dem ersten Kilometer gezahlt? Fast jeden Tag geistert ein anderer Vorschlag durchs Land. Die gebeutelten Arbeitnehmer können sich unterdessen schon einmal auf eine wachsende Abgabenbelastung vorbereiten. Ab dem 1. Januar 2009 bekommen sie nämlich bei der Krankenversicherung im Rahmen des Gesundheitsfonds einen Einheitsbeitrag in Höhe von 15,5 Prozent abgezogen. Das heißt: 92,1 Prozent zahlen mehr als vorher. Tolle Entlastung des Bürgers, nicht wahr? Von wegen mehr Netto vom Brutto. Du arme Binnenkonjunktur. Grund: Reine Ideologie! Merkel scheut die Bürgerversicherung wie der Teufel das Weihwasser.

Aber es kommt noch besser: "Zum 1. Januar 2009 erhöhen 354 Stromversorger ihre Preise um durchschnittlich 8,5 Prozent. Für einen Musterhaushalt mit einem Verbrauch von 4000 kWh bedeutet dies zusätzliche Kosten von durchschnittlich 74 Euro pro Jahr. Von den Strompreiserhöhungen sind mehr als 14 Millionen Haushalte betroffen, auf die eine jährliche Mehrbelastung von mehr als 1 Milliarde Euro zukommt." [3] Gas ist rechtzeitig zur Heizperiode ebenfalls deutlich teurer geworden. Grund: Reine Ideologie! Einst waren die Energieversorger überwiegend in staatlichem Besitz, heute diktieren die privatisierten Riesen RWE und Eon die Preise. Private Unternehmen sorgen sich jedoch primär um das Wohl ihrer Anteilseigner, die preisgünstige Belieferung der Verbraucher ist in diesem Konzept nicht vorgesehen.

So geht es in einem fort: Die Nettolohnquote (= der Anteil der Löhne am verfügbaren Volkseinkommen) ist im ersten Halbjahr 2008 auf beschämende 39,3 Prozent gesunken. 1980 lag sie noch bei 52,7 Prozent. [4] Hier macht sich die drastische Ausweitung des Niedriglohnsektors bemerkbar, etwa in Form von Leiharbeit. Zwischen 1997 und 2007 ist die Zahl der Leiharbeiter von 200.541 auf 715.056 gewachsen - ein Plus von 256 Prozent. Hartz IV zeigt Wirkung. Arbeitslose stehen unter immensem Druck, auch noch die miesesten Löhne akzeptieren zu müssen. Folge: Die Mittelschicht bröckelt peu à peu ab. "Seit 2000 sind fast fünf Millionen Deutsche aus der Mittelschicht in die Randzonen der Gesellschaft abgewandert. (...) Während vor sieben Jahren noch 62,3 Prozent der Bevölkerung über ein mittleres Einkommen verfügten, ging der Anteil bis 2006 auf 54,1 Prozent zurück." [5] Das rasche Schrumpfen der Mittelschicht von 49 auf 44 Mio. innerhalb von sechs Jahren ist erschreckend. Nach einem Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hat sich der Prozentsatz der Niedrigverdiener seit 2000 von 18,9 Prozent auf 25,4 Prozent erhöht. Es tröstet kaum, wenn gleichzeitig der Anteil der Spitzenverdiener von 18,8 Prozent auf 20,5 Prozent gestiegen ist. Die soziale Kluft in Deutschland wird somit immer breiter. Grund: Reine Ideologie! Die Union stemmt sich mit aller Kraft gegen die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns.

Kein Wunder, wenn die Unfähigkeit, die Probleme zu lösen, sich in zunehmendem Akzeptanzverlust der sozialen Marktwirtschaft niederschlägt. "Nachdem der überzeugte Rückhalt für die Marktwirtschaft in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre kontinuierlich zugenommen hatte, sackte dieses Vertrauen zwischen 2000 und 2004 von 51 auf 36 Prozent ab. (...) Eine aktuelle Untersuchung des Bürgerforums der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass nur noch 31 Prozent der Bürger eine gute Meinung von der sozialen Marktwirtschaft haben." [6] Das war wohlgemerkt die Meinung der Bürger vor der dramatischen Verschärfung der Finanzkrise, die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft dürfte also seither weiter gesunken sein.

Die Regierenden sind meiner Ansicht nach gar nicht in der Lage, die Wirtschaftskrise zu bewältigen. Erstens haben sie sie mit ihrer verfehlten Politik selbst verursacht (Stichwort Deregulierungswahn), zweitens können sie sich gedanklich immer noch nicht von den ideologischen Fesseln des Neoliberalismus lösen. Das bedeutet: Im Wahljahr 2009 müssen sie dafür endlich die verdiente Quittung bekommen.

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[1] Reuters vom 23.11.2008
[2] Beim BIP Chinas wurden die im Januar 2009 nachträglich korrigierten Angaben übernommen
[3] Verivox vom 26.11.2008
[4] Frankfurter Rundschau vom 28.11.2008
[5] Focus vom 04.03.2008
[6] Wirtschaftswoche vom 11.06.2008