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03. Dezember 2008, von Michael Schöfer
Wie muss sich diese Partei fühlen


Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde auf dem CDU-Bundesparteitag in Stuttgart mit 94,83 Prozent als Parteichefin bestätigt. "In ihrer Auftaktrede hatte sie rasche Steuersenkungen strikt abgelehnt. An einem 'sinnlosen Wettbewerb um Milliarden' wolle sie sich nicht beteiligen. Spätere Maßnahmen gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise schloss die Vorsitzende der CDU allerdings nicht aus." [1] Das heißt im Klartext: Steuerentlastungen will Merkel erst nach der Bundestagswahl im Herbst 2009 realisieren. Hoffentlich ist es bis dahin nicht zu spät.

Damit reaktiviere sie die "Politik der ruhigen Hand" ihres Vorgängers Gerhard Schröder, behaupten Kritiker zu Recht. Zur Erinnerung: Die "Politik der ruhigen Hand" galt unter Rot-Grün als Synonym für sträfliches Unterlassen. Zumindest damals sah das die CDU genauso. Wie muss sich diese Partei heute fühlen, wenn Angela Merkel in der schwersten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts durch vornehme Zurückhaltung glänzt. Wahrscheinlich ziemlich mies. "Was unter der Ägide von Gerhard Schröder als 'Politik der ruhigen Hand' verspottet wurde, wird nun bei Angela Merkel als Besonnenheit gelobt", kommentierte der Bayerische Rundfunk süffisant. So ändern sich die Zeiten.

Aber das Internet vergisst nichts, deshalb möchte ich mit ein paar Zitaten dokumentieren, was Vertreter der CDU/CSU früher über Gerhard Schröder äußerten:

"Mit seiner Politik des Nichtstuns im wirtschaftlichen Abschwung versündigt sich der Kanzler an Deutschlands Zukunft", prophezeite etwa der CSU-Politiker Michael Glos. [2] Im gleichen Jahr griff auch Angela Merkel ihren Vorgänger auf einem Parteikongress in Hamburg scharf an: "Mit der ruhigen Hand schaffen Sie keine Arbeitsplätze, mit der ruhigen Hand schieben Sie eine ruhige Kugel." [3] Die Union hatte sich auf die "Politik der ruhigen Hand" eingeschossen. "Eine Politik der ruhigen Hand kann Deutschland nicht gebrauchen, denn das bedeutet Stillstand", stellte das offizielle Mitteilungsblatt des CDU-Kreisverbandes Breisgau-Hochschwarzwald Anfang 2004 fest. [4] Deutschland brauche keine Politik der ruhigen Hand, las man in der Publikation der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 21.01.2005. [5]

So tönte es in einem fort: Die Politik der ruhigen Hand von Bundeskanzler Schröder sei eine Katastrophe für das Land, wetterte zum Beispiel die CDU Nordrhein-Westfalens. [6] "Eine Politik der ruhigen Hand habe im Jahr 2000 zu einer massiven Steigerung der Arbeitslosenzahlen und zu einem 'Abrutschen des Wachstums' geführt", wird Michael Meister, Finanzpolitiker und Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zitiert. [7] Wie wahr, aber zu diesem Zeitpunkt konnte er schließlich noch nicht wissen, welche Krise auf uns zukommen und wie träge seine Parteivorsitzende darauf reagieren wird.

Vor und nach Merkels Amtsübernahme wurde viel versprochen: "Es wird mit einer CDU-geführten Bundesregierung kein 'Weiter so' und keine 'Politik der ruhigen Hand' geben, wie sie Rot-Grün in den vergangenen sieben Jahren zum Schaden der Bürger und des Landes praktiziert hat", versicherte das CDU-Magazin "Hessen-Kurier" kurz vor der Bundestagswahl im September 2005 (Seite 4). Und das Ganze auch noch unter der Rubrik "Verlässlichkeit und Klarheit". [8] Naja... Hessische CDU - das sagt alles.

Als Angela Merkel dann 100 Tage im Amt war, versicherte CDU-MdB Elisabeth Winkelmeier-Becker großspurig: "Bürger und Unternehmen trauen dieser Regierung unter unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel etwas zu, die rot-grüne Politik der ruhigen Hand gehört endgültig der Vergangenheit an." [9] Lustigerweise behauptet das der Schwäbisch Gmünder Bundestagsabgeordnete Norbert Barthle ebenfalls, und zwar haargenau mit den gleichen Worten. [10] Offenbar werden die Äußerungen der MdBs bei der CDU von der Parteizentrale aus gesteuert - man könnte sich ja mal, wie Angela Merkel kürzlich auf dem Bundesparteitag ("Roland Kotz" anstatt Roland Koch), verplappern.

Die harsche Kritik an der "Politik der ruhigen Hand" Gerhard Schröders war seinerzeit vollkommen richtig (obgleich die Union dabei ganz andere Vorstellungen im Sinn hatte, als etwa die Gewerkschaften). Umso befremdlicher ist es, dass die CDU nun genau die gleiche Untätigkeit praktiziert. Und vermutlich werden die Ergebnisse ähnlich desaströs ausfallen wie damals.

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[1] ZEIT ONLINE vom 01.12.2008
[2] Netzeitung vom 12.07.2001
[3] Rhein-Zeitung vom 21.12.2001
[4] Intern Breisgau-Hochschwarzwald 2/2004, Seite 12, PDF-Datei mit 1,3 MB
[5] FRAKTION DIREKT, CDU/CSU FRAKTION IM DEUTSCHEN BUNDESTAG, Ausgabe 27, Seite 4, Homepage von Bernd Schmidbauer CDU-MdB, PDF-Datei mit 323 kb
[6] CDU NRW Aktuell, Ausgabe 14/05 vom 07.03.2005, Seite 2, PDF-Datei mit 252 kb
[7] FRAKTION DIREKT, CDU/CSU FRAKTION IM DEUTSCHEN BUNDESTAG, Ausgabe 16 vom 02.02.2007, Seite 3, PDF-Datei mit 142 kb, Homepage von Annette Schavan CDU-MdB und Bundesministerin für Bildung und Forschung
[8] Homepage von Roland Koch, PDF-Datei mit 1,97 MB
[9] Homepage von Elisabeth Winkelmeier-Becker, Die ersten 100 Tage zeigen: Deutschland auf gutem Kurs, 01.03.2006
[10] Aalener Internet-Zeitung