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23. November 1994, von Michael Schöfer
Vor uns ein Zeitalter des Protektionismus?


Der weltweite ökonomische Verteilungskampf wird immer härter geführt. Die westlichen Industriestaaten, traditionell vorherrschend beim Welthandel, geraten zunehmend in Bedrängnis. Ihre Stellung wird vor allem durch Schwellenländer wie Hongkong, Taiwan, Südkorea, Singapur und andere asiatische Wachstumsregionen (VR China, Indonesien etc.) bedroht. Hierbei angewandte Mittel sind vermehrt sog. nichttarifäre Handelshemmnisse, z.B. Importabgaben, Ausfuhrsubventionen, diskriminierende Einfuhrhindernisse, "freiwillige" Exportbeschränkungen usw.), aber auch politisch-soziale Unterdrückung, welche etwa zur Ausschaltung von Gewerkschaften führt. Dieser Kampf bedroht nicht so sehr die technologische Vorrangstellung des Westens, sondern vor allem das hiesige Sozialgefüge, welches unter dieser Last ohne eine grundlegende Reform in Zukunft durchaus zusammenbrechen könnte. Das hat unweigerlich Auswirkungen auf die politische Stabilität. Gleichwohl beteiligen sich auch die etablierten Industrienationen am globalen Verdrängungswettbewerb.

Unfaire Handelspraktiken - ein Beispiel: Die Bundesrepublik importierte im ersten Halbjahr 1994 22.500 Pkws aus Südkorea [1], während Südkorea selbst dank hoher Zoll- und Verwaltungshürden jährlich nur rund 2.000 Autos importiert. Zum Einfuhrzoll von 15 % gesellen sich dort nämlich 10 % Mehrwert- und 24 % Verbrauchssteuer sowie eine dreißigprozentige "Erziehungsabgabe", mit der den südkoreanischen Bürgern die Lust am "Luxus" ausländischer Produkte verdorben wird. Unter dem Strich sind für fremde Autos 79 % des Listenpreises als Aufschlag fällig. Wer sich trotzdem nicht davon abhalten läßt ein ausländisches Auto zu fahren, bekommt - noch bevor das Auto in der Garage steht - unerwünschten Besuch von der südkoreanischen Steuerprüfung. [2] Das zeigt enorme Wirkung. Mit solchen Methoden hat Südkorea in relativ kurzer Zeit bereits Platz 7 der Autoexporteure erklommen (1980 waren sie unter den Automobilherstellern überhaupt noch nicht vertreten). Und nach den Vorstellungen der Südkoreaner soll das erst der Anfang sein.

Mythos Japan: Der japanische Export ist, entgegen einer weit verbreiteten Ansicht, sogar schwächer als der der Bundesrepublik. 1993 betrugen die deutschen Exporte 380 Mrd. US-$, die japanischen hingegen "nur" 360 Mrd., also 20 Mrd. weniger. Der japanische Handelsbilanzüberschuß resultiert einzig und allein aus dem krassen Mißverhältnis zwischen Im- und Export, im letzten Jahr erreichte er beachtliche 120,2 Mrd. US-$ (Importe 240,3 Mrd., Exporte 360,5 Mrd.). [3] Wie schafft Japan das? Beispiele: Japanische Haushaltsgeräte haben im Gegensatz zu deutschen eine anerkannt miserable Qualität, sind aber trotzdem verhältnismäßig teuer. Deutsche Haushaltsgeräte kosten dort jedoch drei- bis viermal soviel. Warum? Nun, erstens schreibt Japan für Elektrogeräte einen speziellen Standard vor, zweitens belegt man ausländische Produkte mit einer Luxussteuer.

Zwar hat Japan mittlerweile die Einfuhrzölle für ausländische Autos abgeschafft, als Ersatz gab es dafür aber eine dreiundzwanzigprozentige Warensteuer, die so formuliert war, daß sie vor allem ausländische Autos traf. Zudem sind die Versicherungsprämien für diese doppelt so hoch wie für einheimische. Und bis vor kurzem gab es dort für importierte Autos, anders als bei uns, keine Typenzulassung. Jedes einzelne Fahrzeug mußte vom japanischen TÜV überprüft und zugelassen werden. Dies trieb natürlich die Importkosten in die Höhe und dauerte entsprechend lange. Deutsche Sicherheitstests wurden generell nicht anerkannt, man mußte sie in Japan nach speziellen Bestimmungen wiederholen. [4] So wurde und wird die Nachfrage nach ausländischen Produkten künstlich reduziert. Während unsere Freihandelsideologen vom Abbau der Handelshemmnisse faseln, gibt es andernorts hohe Schutzwälle.

Von allen Industrienationen sind die USA am schwersten vom internationalen Verteilungskampf gebeutelt. Sie sind inzwischen das mit Abstand meistverschuldete Land der Erde, 1991 betrugen diese Schulden mehr als 700 Mrd. US-$ (neuere Daten liegen noch nicht vor). Die kumulierten Gesamtschulden des Bundes betrugen dort 1993 4,35 Billionen US-$, das Haushaltsdefizit lag bei 254,7 Mrd., das Leistungsbilanzdefizit bei 109,2 Mrd., und das Handelsbilanzdefizit erreichte im gleichen Jahr ein Minus von 139,2 Mrd. (davon allein gegenüber Japan -59,4 Mrd.). [5] Die Verschuldung der privaten Haushalte bezifferte man Anfang 1992 auf 3,7 Billionen, die der amerikanischen Unternehmen auf 3,5 Billionen US-$. [6] Der durchschnittliche Stundenlohn eines Arbeiters ist heute inflationsbereinigt niedriger als jemals zuvor in den vergangenen 30 Jahren. Allein zwischen 1992 und 1993 ist der Jahreslohn im Durchschnitt um 700 US-$ (1050 DM) gefallen. [7] Die Vereinigten Staaten halten sich hauptsächlich durch eine immense Kapitalzufuhr aus dem Ausland aufrecht. So hielten Ausländer 1991 insgesamt 443 Mrd. US-$ in US-Schuldverschreibungen. [8] Firmen- und Immobilienkäufe des Auslands (besonders durch Japaner) tragen ebenfalls erheblich zum Kapitalimport bei. Ebbt diese Zufuhr einmal ab, aus welchen Gründen auch immer, können die USA nur noch Konkurs anmelden.

Die ökonomischen Grunddaten der USA sind also so miserabel, daß ihnen langfristig nichts anderes übrig bleibt, als ihre Defizite gegenüber den anderen Industrienationen (insbes. Japan) mit Hilfe protektionistischer Maßnahmen zu verringern. Weitere Möglichkeiten sind währungspolitischer Art, etwa ein stärkerer Kursverfall des Dollars (verteuert Importe, erleichtert Exporte). Einstweilen nimmt man dort noch Abstand vor allzu harten Maßnahmen, droht vielfach nur mit Protektionismus, denn sämtliche Möglichkeiten bergen für die USA erhebliche ökonomische Risiken. Da sich aber auch unter der Clinton-Administration nichts grundlegend zu ändern scheint, ist es letztlich nur noch eine Frage der Zeit, bis man Ernst machen muß. Und wenn die USA damit beginnen, bleiben andere wohl kaum untätig.

Gleichwohl stellt man sich nicht nur in den USA zu Recht die Frage: Wäre es nicht gerecht, japanische oder südkoreanische Produkte hier den gleichen Restriktionen zu unterwerfen, wie sie dort gegenüber ausländischen Erzeugnissen an der Tagesordnung sind? Nichts gegen Handel, aber fair soll es zugehen. Die Gleichwertigkeit der Mittel ist hierbei unverzichtbar. Wie lange können wir es uns leisten, den gegenwärtigen Zustand des Welthandels zu ignorieren? Doch Wirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) denkt gar nicht daran, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. So will er weder das Verbot von Kinderarbeit noch Verstöße gegen die Menschenrechte oder "Sozialdumping" in das GATT-Abkommen (allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) aufnehmen. Das widerspräche, so Rexrodt, dem Geist offener Märkte. [9]

Offene Märkte können schon aus wirtschaftlicher Logik heraus nicht das allein selig machende Rezept für permanenten Wohlstand sein. Die Ideologie der offenen Märkte ist zwar für Exportnationen durchaus attraktiv, weil sie den entwickelten Nationen die Erwirtschaftung von Handelsüberschüssen erleichtert. Das kann freilich nicht für alle gelten. Naturgemäß muß es bei diesem Spiel Verlierer geben. Das eine (positive Handelsbilanzen) bedingt unweigerlich das andere (negative Handelsbilanzen) und ist systemimmanent. Deshalb können niemals alle gemeinsam bzw. gleichzeitig gewinnen. Woher soll denn der Gewinn der einen kommen, wenn nicht aus dem Verlust der anderen?

Zudem: Sind offene Märkte Selbstzweck, dem alles andere, auch das eigene Sozialgefüge, unterzuordnen ist? Vor allem dann, wenn dabei - wie oben geschildert - gewisse Einseitigkeiten nicht geleugnet werden können? Es stellt sich also ernsthaft die Frage, ob wir nicht ein bestimmtes Maß an Protektionismus benötigen. Protektionismus nicht im herkömmlichen Sinne, nämlich als Abschottung der eigenen Märkte zum Schutz vor unliebsamer Konkurrenz, sondern vielmehr als Mittel zur Durchsetzung sozialer und politischer Mindeststandards (Abwehr von Ausbeutung und politischer Entrechtung). Zweifel, ob unser System entsprechende Reformen überhaupt anstrebt, sind jedoch absolut berechtigt. Denn es ist selbst, um zu existieren, auf die Ausbeutung anderer angewiesen.

Wir brauchen dieses Mindestmaß an Protektionismus nicht zuletzt deshalb, um hierzulande unseren sozialen Standard langfristig halten zu können. Das Sozialgefüge kann und darf nicht zur Disposition stehen. Dem mit politischer Entrechtung einhergehenden Sozialdumping anderer Nationen sind wir letztlich machtlos ausgeliefert. Der gnadenlose Preiskampf ist auf Dauer nicht zu gewinnen (das durchschnittliche Monatseinkommen eines chinesischen Bauern betrug 1993 184 DM, ein Städter in China verdiente durchschnittlich 467 DM). [10] Mit einem entrechteten Arbeiter in China kann ein deutscher, zumindest in bezug auf das Lohnniveau, kaum konkurrieren. So tief können wir mit unseren Löhnen gar nicht gehen - in erster Linie im Interesse der heimischen Industrie (Massenkaufkraft). Eine Anpassung nach unten, kann also weder politisch noch ökonomisch die Lösung bringen. Arbeitsintensive Industriebereiche brauchen ein Minimum an Schutz, denn ob der Strukturwandel hin zu technologieintensiven Produkten auch die entsprechende Anzahl an Arbeitsplätzen nach sich zieht, darf bezweifelt werden. Das ist fürwahr kein Plädoyer gegen den Strukturwandel als solchen, er ist notwendig und im Grunde längst überfällig, insbesondere hinsichtlich der Nutzung regenerativer Energieträger und der Entwicklung von Umweltschutztechnologien. Aber ob wir damit genügend Arbeitsplätze erhalten können, kann man als fragwürdig bezeichnen.

Protektionismus erzeugt allerdings eine Reihe von gravierenden Problemen. So wird eine Volkswirtschaft zwar vor billiger Konkurrenz abgeschirmt, verliert aber auf Dauer ihre Innovationsfreudigkeit und mithin langfristig die Wettbewerbsfähigkeit. Zudem ist Protektionismus in einer stark verflochtenen Weltwirtschaft für ein Land allein weder erfolgreich zu praktizieren noch durchzustehen. Kein Land ist autark, alle sind auf den Handel mit anderen Nationen angewiesen. Und letztlich soll Protektionismus den ärmsten Nationen der Dritten Welt nicht von vornherein alle Chancen auf Teilhabe am Wohlstand vorenthalten. Wie man die Kapitalflucht und Abwanderung von Betrieben verhindert, kann hier nicht erörtert werden. Aber auch diesbezüglich müssen Lösungen gefunden werden (Beschränkung und Kontrolle des Kapitalverkehrs, Steuerangleichungen, Importquoten nach Herstellungsort, Verteuerung der Transportkosten etc.).

Können wir uns Protektionismus überhaupt leisten, schließlich ist die Bundesrepublik unter allen Industrienationen die mit Abstand exportabhängigste Nation? 1993 betrug bei uns der Anteil des Exports am Bruttosozialprodukt 20,6 %, bei den größten Konkurrenten dagegen wesentlich weniger (Japan 10,3 %, USA 7,9 %). [11] Zunächst, ein hoher Exportanteil ist alles andere als wünschenswert, denn damit ist man von der konjunkturellen Entwicklung im Ausland in höchstem Maße abhängig - ohne sie durch eigene politische bzw. wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen zu können. Und zur Zeit könnte der bundesdeutsche Binnenmarkt, der aufgrund erheblicher Kaufkraftverluste zum gegenwärtigen Aufschwung nur wenig bis gar nichts beiträgt, durchaus eine Stärkung gebrauchen. Darüber hinaus exportieren wir 65,7 % unserer Waren in die EU-Staaten bzw. andere westeuropäische Länder (viele davon künftige EU-Mitglieder). In außereuropäische Industrienationen gehen lediglich 12,5 % unserer Exporte, davon in die USA 7,7 % und nach Japan 2,6 %. [12] Ein Wirtschaftskrieg ist für uns somit nicht von vornherein aussichtslos. Im Verbund mit der EU (und nur so) könnten wir uns ein Mehr an Protektionismus also durchaus leisten.

Gehen wir demnach auf ein protektionistisches Zeitalter zu? Ich glaube ja - auch wenn politische Aktivitäten (GATT) noch in die entgegengesetzte Richtung zu deuten scheinen. Die Liberalisierung des Welthandels über das GATT-Abkommen soll nach einer OECD-Schätzung bis zum Jahr 2002 einen Anstieg der Welt-Wirtschaftsleistung um 274 Mrd. US-$ bewirken. [13] Unterstellt man die Richtigkeit dieser Einschätzung, kann man zumindest Zweifel äußern, ob sich das auch in qualifizierte Arbeitsplätze und damit Massenwohlstand umsetzen läßt. Gegenwärtig registrieren wir ja in praktisch allen Industrienationen, wie wenig eine Steigerung des Sozialprodukts Arbeitslosigkeit vermeiden hilft (jobless growth). Da sich daran vermutlich nichts ändert, wird Protektionismus langfristig kaum zu vermeiden sein. Voraussichtlich stehen sich dann drei Wirtschaftsblöcke feindlich gegenüber: NAFTA, EU und Japan (mit einigen anderen asiatischen Nationen). Die Formierung in Wirtschaftsblöcke ist kennzeichnend für die derzeitige Phase der Weltwirtschaft und stellt gewissermaßen das Grundgerüst für den kommenden Protektionismus dar. Es zeigt, der globale Wirtschaftskrieg hat - entgegen den Beteuerungen - längst begonnen. Es geht daher nicht um das Ob, sondern um das Wie.

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[1] Frankfurter Rundschau v. 13.08.1994
[2] Frankfurter Rundschau v. 27.12.1993
[3] Fischer Weltalmanach 1995, Seite 1030
[4] Günter Ederer, Das leise Lächeln des Siegers, Düsseldorf 1993, Seite 90f u. 95f
[5] Fischer Weltalmanach 1995, Seite 652, 905 u. 1037
[6] Rolf Winter (Hrsg.), Der amerikanische Alptraum, München 1992, Seite 23
[7] Frankfurter Rundschau v. 07.11.1994
[8] Harry E. Figgie/Gerald J. Swanson, Bankrott ´95: Die Schuldenkatastrophe der USA, Frankfurt am Main 1994, Seite 160
[9] Frankfurter Rundschau v. 07.04.1994
[10] Frankfurter Rundschau v. 20.04.1994
[11] Fischer Weltalmanach 1995, Seite 897 u. 1030
[12] Fischer Weltalmanach 1995, Seite 1032 u. 1034
[13] Globus 1856