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Vorbemerkung: Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering hat unter dem Titel "Was links ist" einen Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau geschrieben, der am 6. Februar 2009 erschienen ist. Herold Scheffelmeier hat mich gebeten, seine nachfolgende Erwiderung auf meiner Website zu veröffentlichen.

15. Februar 2009, von Herold Scheffelmeier
Was links ist


Der Parteivorsitzende der SPD, Herr Müntefering, entwirft für uns die "Politik der Zukunft". Er erklärt uns, links sei der "konsequente Weg zum Fortschritt" und "soziale Gerechtigkeit", die er "eben auch Verteilungsgerechtigkeit" nennt. Für Müntefering sind "sittenwidrige niedrige Löhne" eine "Provokation". In seiner Sicht gibt der "Sozialstaat verlässliche Sicherheit im Wandel", er müsse sich jedoch auch "wandeln, um diese Sicherheiten" auch zukünftig zu gewährleisten. "Die linke Idee setzt ... auf Reformen" meint Müntefering und pocht auf den "Primat der Politik". Europa wird von ihm zu einem "Projekt" für "Frieden und Wohlstand" erklärt. Nach seiner Sicht ist die Sozialdemokratie die "Verantwortungs-Linke und die "Gestaltungs-Linke", die "aktiv gestalten", die "verändern und erneuern" will, mit "Verantwortung für das Ganze und mit Augenmaß für das Machbare".

Schauen wir uns die Politik der Vergangenheit an. Die SPD hat die Umverteilung von unten nach oben forciert (Steuergeschenke für Konzerne und Superreiche), womit sie auch die Handlungsfähigkeit des Staates minimiert hat; sie macht(e) mit "Hartz IV" Arbeitnehmer, die jahrzehntelang Beitragszahler waren (das nennt Blüm "Versicherungsbetrug"), zu Fürsorgeempfängern, sie hat sie in die Armut gestoßen und mit ihnen Millionen von Kindern (1,8 Millionen oder über 16% der Kinder unter 15 Jahren leben in SGB II-Bedarfsgemeinschaften); sie hat sie zudem enteignet (Zwang zum Verbrauch von Rücklagen).

Die SPD hat ferner mit der Gesundheitsreform und der "Riesterrente" die Demontage der paritätisch finanzierten Sozialversicherung eingeläutet als auch die Versicherten massiv belastet (Praxisgebühr, Zuzahlungen, Ausgliederungen von Leistungen, Beitragserhöhung für Arbeitnehmer wegen Wegfall des Arbeitgeberanteils beim Zahnersatz und dem Krankengeld); die SPD geführte Regierung plünderte – quasi als Gegenfinanzierung zu "Hartz IV - unser Arbeitslosenkasse aus ("Aussteuerungsbetrag" der Agentur für Arbeit an den Bundeshaushalt für nicht vermittelte Arbeitslose, im Durchschnitt der vergangenen Jahre ca. 5 Mrd. Euro jährlich). Die SPD hat ferner durch die Renten"reform" faktisch die Renten gekürzt und die Rente mit 67 eingeführt, mit absehbaren Folgen für uns Arbeitnehmer (Altersarmut, Rentenabschläge wegen Frühverrentung).

Die Regierung Schröder selbst hat zudem durch ihre Gesetzgebung die von Müntefering heuchlerisch beschimpften "Heuschrecken" eingeladen, Firmen hierzulande auszuplündern mit der Folge von Lohndrückerei und Entlassungen. Als Dankeschön für das "Engagement" der Private-Equity-Fonds wurde der Weiterverkauf der ausgeweideten Firmen steuerfrei gestellt.

Durch die Gesetze zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes (Verlängerung von Befristungen, Ausweitung der Leiharbeit) von rot-grün ist ein "prekärer Arbeitsmarkt" entstanden mit ca. 7 Mio. Arbeitnehmern (das sind fast 25 Prozent aller Beschäftigten!), die in unsicheren Arbeitsverhältnissen zum Teil zu Hungerlöhnen arbeiten müssen (1,3 Mio. Arbeitnehmer verdienen nicht einmal das Existenzminimum, davon haben eine halbe Mio. eine Vollzeitstelle).

Auf dem Finanzsektor haben die Sozialdemokraten unter rot-grün und rot-schwarz mit den entsprechenden Gesetzen (neben der Zulassung von Hedgefonds vor allem die Erlaubnis für die Banken, in das Geschäft mit Kreditderivaten einzusteigen und dafür Gesellschaften in Steueroasen zu gründen, die keiner Vorschrift zur Bildung eines Risikopolsters in Form von Eigenkapital unterlagen und andere Gesetze zur "Förderung des Finanzplatzes") die Fehlentwicklungen in der Geldwirtschaft und damit die Mega-Krise unserer Volkswirtschaft letztlich verursacht!

Wie viel ideologische Verblendung ist eigentlich notwendig, wie viel Unverfrorenheit braucht man, um angesichts der skizzierten "Politik der Vergangenheit" ein "linkes" sozialdemokratisches Projekt für die Zukunft zu entwerfen? Was hat die Armutsproduktion durch Hartz IV, was hat die Demontage der paritätisch finanzierten Sicherungssysteme, die Kürzung der Renten und die Rente mit 67 mit "sozialer Gerechtigkeit" und "Fortschritt" zu tun. Welche sprachliche Verwirrung ist entstanden, um diesen Projekten das Label "Reformen" anzuheften? Warum spricht Müntefering vom "Wandel" des Sozialstaates, wenn er dessen Abbau meint? Seit wann firmiert eine Steuerreform zugunsten der Konzerne und Superreichen unter dem linken Etikett "Verteilungsgerechtigkeit" - oder habe ich hier etwas missverstanden? Warum fühlt sich Herr Müntefering durch "sittenwidrige niedrige Löhne" "provoziert", wenn doch seine Partei die Entstehung eines Niedriglohnsektors erst ermöglicht hat? Hat Herr Müntefering einmal darüber nachgedacht, dass die SPD durch die Deregulierungsgesetze zugunsten der Finanzwirtschaft und der internationalen Finanzinvestoren eben nicht dem "Primat der Politik" gefolgt ist? Sie hat das Gegenteil vom dem getan, nämlich sich den Kapitalinteressen (Primat der Ökonomie) unterworfen!

Wie viel Blindheit gehört dazu, ein Europa, dessen Verfassung die Aufrüstung der Mitgliedstaaten vorschreibt und eine neoliberale "offene Marktwirtschaft" mit "freiem Wettbewerb" (Lissabon-Vertrag) zementiert, als "Friedens- und Wohlstands"-Projekt zu präsentieren?

Nun, da Herr Müntefering den beim Soziologen Max Weber in leichter Abwandlung entlehnten Begriff (Weber spricht von "Verantwortungsethik") der "Verantwortungs-Linken" kreiert, die das "Ganze" und das "Machbare" im Blick haben, kann er später dann, wie die Versprechungen in den SPD-Wahlprogrammen von 1998 und 2002, all die "linken" Verheißungen der "Politik der Zukunft" einkassieren mit Hinweisen auf die Globalisierung, die Entwicklung der Demographie, die Notwendigkeiten der Stärkung des Finanzplatzes Deutschland und sonstigen aus dem Blick aufs "Ganze" (was immer dies sein mag) resultierenden Entschuldigungen!

So gesehen, mag ich gerne auf das neue "linke" "Projekt der Zukunft" verzichten!