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18. Februar 2009, von Michael Schöfer
Liebe Kapitalismusfreunde...


...habt Ihr es nicht ein bisschen übertrieben? Wenn sich die Meldungen, auf die ich heute über die NachDenkSeiten aufmerksam geworden bin, wirklich bewahrheiten, kann man unsere Situation bloß noch mit einem Selbstmörder vergleichen, der vor kurzem vom Dach eines Hochhauses gesprungen ist. Ohne Fallschirm, versteht sich. Noch fliegt er, aber der tödliche Aufprall ist unausweichlich.

Wie der Standard gestern meldete, sitzen die europäischen Banken derzeit angeblich auf 16,3 Billionen Pfund unverkäuflicher - neudeutsch: toxischer - Wertpapiere (nach heutigem Tageskurs 18,5 Billionen Euro). [1] Das will jedenfalls die britische Tageszeitung "Daily Telegraph" herausgefunden haben, die sich auf ein bislang "streng geheimes" Papier der EU-Kommission bezieht. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands betrug 2008 nach vorläufigen Zahlen rund 2,5 Billionen Euro. [2] Der "Wert" der unverkäuflichen Wertpapiere wäre demnach fast siebeneinhalb mal so groß wie die Wirtschaftsleistung der stärksten Volkswirtschaft Europas.

Wolfgang Lieb von den NachDenkSeiten kommentiert: "Für solche Zahlen fehlt einem (...) das Vorstellungsvermögen, wenn sie aber nur näherungsweise zutreffen, dann kann einem nur schwarz vor Augen werden - oder mir kommen die Geldscheine meines Großvaters aus den frühen zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den Sinn, deren Nullen man kaum noch zählen konnte, für die man sich aber, wie mir meine Großmutter sagte, kaum noch ein Brot kaufen konnte." Hyperinflation, nannte man das damals. Simbabwe lässt grüßen.

Auch in der Schweiz bläst momentan extrem kalter Wind durchs Land. Glaubt man Artur P. Schmidt, promovierter Wirtschaftskybernetiker, Buchautor und Herausgeber zweier Finanzportale, droht der Schweiz unter Umständen der Staatsbankrott. [3] In Ländern wie Polen, Ungarn und Kroatien sei der Schweizer Franken zur wichtigsten Fremdwährung geworden, sagt Schmidt. In Ungarn sollen 31 Prozent aller Kredite in Schweizer Währung ausgestellt sein, bei den privaten Haushalten sind es fast 60 Prozent. Und viele Kreditnehmer bekämen jetzt angesichts des Verfalls ihrer Heimatwährungen erhebliche Probleme bei der Rückzahlung der Kredite. "Gemäß einem Bericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich sind weltweit Franken-Kredite im Gegenwert von rund 675 Milliarden Dollar im Umlauf." (Nach heutigem Tageskurs 794 Mrd. CHF.) [4] "Wieviele dieser Kredite faul sind, ist nicht bekannt." Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt der Schweiz betrug 2007 512 Mrd. CHF. [5] Die Franken-Kredite umfassen somit den eineinhalbfachen Wert der gesamten Schweizer Wirtschaftsleistung.

Trotz allem findet der Kapitalismus weiterhin blauäugige Befürworter, die die verzweifelten Rettungsversuche der Hypo Real Estate sogar als "Rückkehr des Sozialismus" diffamieren. So schreibt etwa Jan Boris Wintzenburg im Stern 07/2009: "Ziemlich genau 20 Jahre nach dem Fall der Mauer ist der Sozialismus zurück in Deutschlands Wirtschaftsordnung: Bundesfinanzminister Peer Steinbrück lässt die Enteignung und Verstaatlichung von Banken vorbereiten. Ein entsprechendes Gesetz könnte schon bald vom Kabinett verabschiedet werden. Es geht darum, die entfesselten Kräfte des Kapitals zu zügeln. Karl Marx lässt grüßen." [6]

Der Oeffinger Freidenker zeigt sich zu Recht entsetzt: "Wo erkennt Jan Boris Wintzenburg hier bitte Sozialismus? Verstaatlichung ist nicht Sozialismus. Und Marx hätte sicher auch nicht dazu geraten, die marode HRE zu verstaatlichen. Und grüßen lassen hätte er die unfähige Bande, die derzeit an den Schalthebeln sitzt sicherlich auch nicht. Sein Etikett und das des Sozialismus wird leider gerade wieder freizügig verwendet als wären wir in einer CDU-Werbekampagne. Sind wir aber nicht. Deswegen sollte der Herr Wintzenburg vielleicht einmal nachdenken, bevor er seinen reißerischen Aufmacher schreibt. Solche Aufmacher sind derzeit en vogue, ich habe das obige in leicht veränderter Form schon mehrere Male bei den unterschiedlichsten Zeitungen gelesen. Richtiger wird es dadurch nicht."

Liebe Kapitalismusfreunde, dann müssen wir eben die Banken reihenweise pleitegehen lassen, wenn die Verstaatlichung von ein paar Banken schon unter den Begriff "Sozialismus" fällt und daher abzulehnen ist. Das Dumme (für die Kommentatoren) ist freilich, dass wir den Sozialismus in diesem Fall quasi durch die Hintertür bekommen - und zwar über den nachfolgenden Zusammenbruch des Kapitalismus. (Oder wir erleben die Renaissance des Nationalsozialismus. Nach ökonomischen Katastrophen ist alles möglich, gerade hierzulande müsste das hinreichend bekannt sein.) Falls die oben genannten Zahlen tatsächlich stimmen, war der Fall der Mauer und der Kollaps des "real existierenden Sozialismus" dagegen geradezu ein Kinderspiel. Die bisher geplanten respektive bereits aufgespannten Rettungsschirme haben offenbar, gemessen an der Wucht der auf uns einstürzenden Probleme, nur das Ausmaß eines Taschenschirms: Für leichten Sprühregen bestens geeignet, aber bei Windstärke 12 (Orkan) vollkommen nutzlos. Wer den Sozialismus also wirklich will, sollte ruhig weitermachen wie bisher. Und mal ganz unter uns: Hatte der olle Marx in manchem nicht verdammt recht?

Noch ein Hinweis für Verfassungsfreunde: Der Kapitalismus hat KEINEN Verfassungsrang. "Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf verändern wollen, [sind] noch keine Extremisten", sagt selbst das Bundesamt für Verfassungsschutz. [7] Schließlich lässt auch das Grundgesetz eine Enteignung "zum Wohle der Allgemeinheit" ausdrücklich zu. [8] Und was könnte dem "Wohle der Allgemeinheit" mehr dienen als die Verhinderung des Zusammenbruchs unseres Finanzsystems? Nichts! Was bei uns - zu Recht - Verfassungsrang besitzt, sind Demokratie und Sozialstaat. [9] Die Abkehr vom Kapitalismus ist zwar (noch) unwahrscheinlich, allerdings wird sie von der Verfassung keineswegs untersagt. Kapitalismus und Demokratie sind demzufolge mitnichten zwei Seiten derselben Medaille. Das eine kann (theoretisch) sehr wohl ohne das andere existieren. Insofern ist dem Oeffinger Freidenker uneingeschränkt zuzustimmen.

Postskriptum: Liebe Schwarzseher, ich hoffe inbrünstig, Ihr habt unrecht.

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[1] Kurs 1 Pfund = 1,1337 Euro
[2] Frankfurter Rundschau vom 13.02.2009
[3] Tages Anzeiger vom 12.02.2009
[4] Kurs 1 US-Dollar = 1,1764 Schweizer Franken (CHF)
[5] Schweizer Bundesamt für Statistik
[6] Stern vom 10.02.2009
[7] siehe Hat der Kapitalismus Verfassungsrang? vom 16.05.2008
[8] vgl. Artikel 14 und Artikel 15 GG
[9] vgl. Artikel 20 GG