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19. April 2009, von Michael Schöfer
Vorwärts in den Sozialismus?


Franz Josef Strauß ein Anhänger des Sozialismus? Helmut Schmidt ein Verteidiger der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln? Helmut Kohl ein verkappter Linker? Journalisten, die damals solche Thesen in den Raum geworfen hätten, wären sicherlich von niemandem mehr ernstgenommen worden. Dabei hätten sie seinerzeit, jedenfalls nach heutigen Maßstäben, allen Grund gehabt, gegen die vermeintliche Sozialismusgefahr anzuschreiben.

Die Bundesrepublik hat erst Anfang der siebziger Jahre begonnen, ihre bis dahin geltenden Kapitalverkehrskontrollen abzubauen. Unter Finanzminister Franz Josef Strauß (1966-1969) blieben sie also in Kraft. Verharrte der CSU-Politiker in der marxistischen Mottenkiste? Als Helmut Schmidt regierte, war der Bund an zahlreichen Unternehmen beteiligt (1982: unmittelbar an 170, mittelbar an 856), darunter die VEBA und die VIAG, die nach ihrer Privatisierung im Jahr 2000 zur heutigen E.ON fusionierten. [1] Schmidt deshalb als Verteidiger der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln hinzustellen, wäre dennoch vollkommen absurd gewesen. 1982, zu Beginn der Amtszeit Helmut Kohls, lag der Spitzensteuersatz bei 56 Prozent, als Kohl 1998 sein Amt verlor lag er bei 53 Prozent. [2] War der langjährige CDU-Patriarch folglich ein Linker? Mitnichten.

Nun hat die SPD an diesem Wochenende ihr Programm zur Bundestagswahl 2009 vorgelegt. [3] Es sieht u.a. vor, den allgemeinen Spitzensteuersatz bei 42 Prozent zu belassen, aber die sogenannte "Reichensteuer", also den Steuersatz für Besserverdienende (Alleinstehende ab 125.000 Euro, Verheiratete ab 250.000 Euro Jahreseinkommen), von 45 auf 47 Prozent zu erhöhen. Prompt lautet das Thema bei Anne Will: "Vorwärts in den Sozialismus - Müssen die Reichen jetzt zahlen?" (Sendung vom 19.04.2009) Wenn der Sozialismus angeblich schon bei einem Spitzensteuersatz von 47 Prozent ausbricht, wie würde Anne Will dann die Ära Kohl charakterisieren? Mit Verlaub, Frau Will, dümmer kann man wohl kaum fragen.

Ressentiments wecken, das hat im Deutschland des Jahres 2009 offenbar System. Es erstaunt kaum, dass der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle bei der Verstaatlichung der faktisch bankrotten Hypo Real Estate (HRE) den Sozialismus kommen sieht: "Enteignung ist Sozialismus und keine Soziale Marktwirtschaft." [4] Dass renommierte Journalisten, die es eigentlich besser wissen müssten, ins gleiche Horn stoßen, verwundert dafür umso mehr.

Beispielsweise Manfred Bissinger, ehedem stellvertretender Chefredakteur des Stern und Chefredakteur der linken Zeitschrift Konkret: "Verkehrte Welt 2009: (...) Selbst das schärfste Schwert des Sozialismus, die Enteignung, ist kein Tabu mehr." [5] Das ist keineswegs satirisch gemeint, Bissinger scheint sein Sozialismus-Verdikt wirklich ernst zu meinen. Allerdings verdreht er dabei die Tatsachen: Mit der Verstaatlichung der HRE versucht die Regierung den Kapitalismus zu retten, mit Sozialismus hat das Ganze nicht das Geringste zu tun. Normalerweise enteignet man nämlich Werte, in der Finanzkrise werden jedoch ausnahmslos Schulden sozialisiert. Mit anderen Worten: Die Steuerzahler werden dadurch nicht reicher, sondern ärmer. Und warum steht "das schärfste Schwert des Sozialismus" bei uns seit 1949 im Grundgesetz? [6] Doch nicht deshalb, weil die Bundesrepublik nach dem Krieg den Sozialismus aufbauen wollte.

Der Sozialismus erlebt bei uns allenfalls erst dann eine Renaissance, wenn die verzweifelte Rettung des Kapitalismus misslingt. Womöglich ist das insgeheim sogar der Wunsch von Anne Will und Manfred Bissinger: Sie stellen sich absichtlich dumm und sabotieren durch bewusste Übertreibung die Rettung des Kapitalismus. In Wahrheit möchten sie den Sozialismus quasi durch die Hintertür einführen - über eine besonders ausgeklügelte Form der "Schöpferischen Zerstörung". Diese Taktik, die mich irgendwie an Verona Feldbuschs Marketingstrategie (der des Dummchens: "Da werden Sie geholfen") erinnert, wäre nun wiederum extrem intelligent (weil absolut hinterhältig und kaum zu durchschauen). Die Talk-Runde mit dem Titel "Vorwärts in den Sozialismus - Müssen die Reichen jetzt zahlen?" erscheint plötzlich in einem ganz anderen Licht. So eine Raffinesse hätte ich Anne Will gar nicht zugetraut, die Frau wird sträflich unterschätzt.

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[1] Bundeszentrale für politische Bildung, Staatliches/öffentliches Vermögen
[2] Wikipedia, Einkommensteuer (Deutschland), Entwicklung des Einkommensteuertarifs seit 1958
[3] zur Glaubwürdigkeit der SPD vgl. Bedeutet "klare Kante" auch "klare Linie"? vom 16.04.2009
[4] FDP
[5] Welt-Online vom 18.04.2009
[6] vgl. Artikel 14 und Artikel 15 GG