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25. April 2009, von Michael Schöfer
Nichts als die Wahrheit


Pullach bei München: Vorige Woche wurde durch einen Unfall in der geheimen Bioforschungsanlage des Bundesnachrichtendienstes ein genmanipuliertes Virus freigesetzt, das offenbar alle Infizierten dazu veranlasst, bloß noch die Wahrheit zu sagen. Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Seitdem hat das Virus die halbe Republik befallen. Die Konsequenzen sind natürlich verheerend. Uns erreichte soeben die erstaunlich offenherzige Aussage eines hohen Regierungspolitikers, die wir im Folgenden auszugsweise dokumentieren:
Schon seit mindestens zwei Jahrzehnten bläuen wir den Menschen erfolgreich ein, dass sie künftig selbst für sich sorgen müssen. Die Besserverdienenden haben es nämlich endgültig satt, ihren hart erkämpften Wohlstand mit jemandem zu teilen. Wozu haben wir wohl die Begriffe "Eigenverantwortung" und "Vollkaskomentalität" erfunden? Um das Volk möglichst schonend daran zu gewöhnen, dass die "soziale Hängematte" (ebenfalls eine äußerst hilfreiche Wortschöpfung) jetzt ein für alle Mal zerschnitten wird. "Der Sozialstaat ist unbezahlbar geworden" - auf den mondänen Lobbyisten-Partys erregt dieser alte Witz immer noch große Heiterkeit. Und das Tolle daran ist, die meisten stimmen dem zu. Das haben wir anfangs gar nicht glauben wollen, aber es funktioniert tatsächlich.

Wer keine Arbeit findet, lebt eben von Hartz IV. So einfach ist das. Ob die Menschen unschuldig arbeitslos geworden sind oder nicht, ist uns völlig gleichgültig. Schmarotzer, Faulenzer und Drückeberger, wer uns auf der Tasche liegt hat kein Mitleid zu erwarten. Zweifel werden mühelos ausgeräumt, das allseits bekannte Lügenblatt hat zum Glück immer eine passende Story parat. Florida-Rolf lässt grüßen. Es ist ja so leicht, menschliche Gehirne zu manipulieren.

Aber auch die, die noch Arbeit haben, müssen spuren. Viele denken wahrscheinlich, die durch unglückliche Umstände bekannt gewordene Überwachung bei Lidl, der Telekom und der Bahn sei die Ausnahme. Schlaft weiter, ihr Ahnungslosen. Die Wirtschaft hat längst ein fast lückenloses Überwachungssystem etabliert, von dem Wolfgang Schäuble nur träumen kann. Der braucht für seine Kontrolle noch Gesetze und Gerichtsbeschlüsse. Wenigstens offiziell. Die Unternehmen machen das im laufenden Betrieb, einfach so nebenher.

Und wer ihnen in die Quere kommt, dem jubeln sie kurzerhand ein paar Porno-Dateien unter. Für Systemadministratoren ist das längst zur Routine geworden. Unbequeme Mitarbeiter auf Linie bringen, notfalls vor der Belegschaft bloßstellen oder vom Arbeitsgericht abmeiern lassen, ist im Grunde kein Problem. Beweise? Die besten die es gibt, alle selbst produziert. Die Arbeitsrichter sind bekanntlich streng: Jeder, der Kleinigkeiten klaut (was zu "beweisen" mittlerweile problemlos gelingt), wird fristlos entlassen. Ausgleichende Gerechtigkeit: Wer seinen Betrieb in die Insolvenz steuert, bekommt eine ordentliche Abfindung.

Wir haben nicht vor, daran etwas grundlegend zu ändern, schließlich sind die Menschen für den Staat und die Wirtschaft da, nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: Das Volk lebt, um zu arbeiten, es arbeitet nicht, um zu leben. Die Sklaverei in Rom beruhte noch auf Zwang. Wie primitiv. Die moderne Sklaverei beruht dagegen auf Einsicht. Einsicht in die Gültigkeit der Marktgesetze. Es hat uns viel Mühe gekostet, diese Sichtweise überall durchzusetzen.

Damit man das Ganze nicht als Lüge entlarvt, sind wir leider noch ein Weilchen auf Begriffe wie zum Beispiel "Soziale Marktwirtschaft" oder "Globalisierung" angewiesen. Aber nicht mehr allzu lange, denn der Bundesnachrichtendienst arbeitet seit kurzem an einer neuartigen Methode, das Bewusstsein der Wähler entsprechend unseren Wünschen auszurichten. Spätestens dann, wenn das wirklich funktioniert, können wir auf sämtliche Euphemismen vollständig verzichten: Egal was wir tun, die Wiederwahl ist uns sicher.
Upps, da scheint bei den Experimenten des BND etwas gründlich schief gegangen zu sein.