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16. Mai 2009, von Michael Schöfer
Kulturpreisfiasko


Stellen Sie sich vor, die Römer hätten das Fallbeil (Guillotine) erfunden und die zum Tode Verurteilten daher nicht ans Kreuz genagelt, vielmehr buchstäblich einen Kopf kürzer gemacht. Dann hinge den Pfaffen heute kein Kreuz um den Hals, sondern eben eine Guillotine. In den Kirchen würden sich die Gläubigen unter dem Fallbeil zum Gebet versammeln. Und anstatt sich zu bekreuzigen, würden sie - ja, was denn? - vielleicht die Geste des Halsabschneidens ausführen. Mit der gebotenen Ehrfurcht, versteht sich. Absurd? Irgendwie schwer vorstellbar, aber konsequent, wenn man, wie die Christen, dem Kreuz eine besondere, über seinen eigentlichen Zweck als Marter- und Todeswerkzeug hinausgehende Bedeutung verleiht.

"Im Christentum symbolisiert der vertikale Balken die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen. Der horizontale Balken des Kreuzes verbindet die Beziehung zwischen den Menschen. Heute ist das Kreuz besonders als Zeichen des Christentums verbreitet und wurde 431 durch das Konzil von Ephesos offiziell als christliches Zeichen eingeführt. Das Zeichen leitet sich von der Kreuzigung Jesu ab und ist in der christlichen Theologie eng mit dem Thema Schuld und Sühnung verbunden. (...) Positiv gedeutet wird das Symbol für Frieden und Erlösung in der christlichen Religion." [1] Nehmen wir an, Jesus hätte wirklich existiert (Sie werden mir hoffentlich verzeihen, aber ich bin überzeugter Atheist und glaube nicht an orientalische Märchen), dann wäre er auf Golgota bestimmt guillotiniert und nicht gekreuzigt worden. In diesem Fall hätte zwangsläufig die Guillotine den Platz des Kreuzes eingenommen. Oder wäre sie - speziell bei Prozessionen - zu sperrig und damit als christliches Symbol vollkommen ungeeignet gewesen? Das wird man nie erfahren.

Das Bundesland Hessen hat einen Kulturpreis, er wird jährlich für besondere Leistungen in Kunst, Wissenschaft und Kulturvermittlung verliehen. 2009 sollten sich vier Persönlichkeiten den Preis teilen: Kardinal Karl Lehmann (ehedem Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz), Peter Steinacker (früher Präsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau), Salomon Korn (Vizepräsident des Zentralrats der Juden) sowie der Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani. Doch daraus wird nichts, denn Kermani wurde der Preis nachträglich wieder aberkannt, und zwar auf Betreiben von Kardinal Lehmann. Begründung: Lehmann könne "nicht neben jemandem auf der Bühne stehen, der das Kreuz rundherum und prinzipiell ablehnt und es sogar als 'Gotteslästerung und Idolatrie' erklärt." [2] Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) strich Kermani daraufhin kurzerhand von der Preisträgerliste, was dieser übrigens stilgerecht von der Presse erfuhr.

Stein des Anstoßes ist Kermanis Artikel "Bildansichten: Warum hast du uns verlassen?", den die renommierte Neue Zürcher Zeitung am 14.03.2009 veröffentlichte. Darin schreibt er: "Kreuzen gegenüber bin ich prinzipiell negativ eingestellt. Nicht, dass ich die Menschen, die zum Kreuz beten, weniger respektiere als andere betende Menschen. Es ist kein Vorwurf. Es ist eine Absage. Gerade weil ich ernst nehme, was es darstellt, lehne ich das Kreuz rundherum ab. Nebenbei finde ich die Hypostasierung des Schmerzes barbarisch, körperfeindlich, ein Undank gegenüber der Schöpfung, über die wir uns freuen, die wir geniessen sollen, auf dass wir den Schöpfer erkennen. Ich kann im Herzen verstehen, warum Judentum und Islam die Kreuzigung ablehnen. (...) Der Koran sagt, dass ein anderer gekreuzigt worden sei. Jesus sei entkommen. Für mich formuliere ich die Ablehnung der Kreuzestheologie drastischer: Gotteslästerung und Idolatrie [Bilderverehrung, Anm. d. Verf.]." Kermani selbst hat sich zu dem Vorgang in einer Mail an die FAZ ausführlich geäußert. [3]


Hätte sich Kermani über die Guillotine geäußert, wäre nichts passiert. Aber das Kreuz ist natürlich absolut tabu. "Wenn Kermanis 'kühner Artikel' über die Empfindungen eines Muslims bei der Betrachtung einer Darstellung der Kreuzigung Christi in einer römischen Kirche der Grund für die Entscheidung sei, dann solle der Staat 'besser auf die Verleihung von Kulturpreisen verzichten'", kommentiert Bundestagspräsident Norbert Lammert die peinliche Aberkennung. [4] Recht hat er. Ich weiß nicht, was Kardinal Lehmann und Roland Koch unter Kultur verstehen, aber offensichtlich gehören Toleranz gegenüber Andersdenkenden und die Freude am öffentlichen Diskurs, dessen Grundvoraussetzung logischerweise der Dissens ist, nicht dazu. Bei einem Kleriker ist Intoleranz normal, einem Ministerpräsidenten allerdings stehen Kleinkariertheit und Diensteifer beim Ausführen von "Befehlen" der Amtskirche schlecht zu Gesicht. Gleichwohl ist es haargenau das, was man von Roland Koch gemeinhin erwartet. Mit anderen Worten: Eine glänzende Bestätigung sämtlicher Vorurteile.


Navid Kermani kann froh sein, durch die Aberkennung des Kulturpreises wird er wenigstens über seinen bisherigen Leserkreis hinaus bekannt. Einem Schriftsteller kann gar nichts besseres passieren. Streit mit der Kirche hebt erfahrungsgemäß das Renommee und den Bekanntheitsgrad. Oder hätten Sie etwa Hans Küng ohne seine Auseinandersetzung mit dem Vatikan je zur Kenntnis genommen. Wohl kaum. Insgeheim wird sich Kermani deshalb gewiss ins Fäustchen lachen und sogar bei Kardinal Lehmann und Roland Koch bedanken. Bleibt nur noch eine Frage offen: Wie hätte Andrea Ypsilanti reagiert?

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[1] Wikipedia, Kreuz (Symbol)
[2] Frankfurter Rundschau vom 16.05.2009
[3] Website von Navid Kermani, Keine Mail von Dieter Beine, PDF-Datei mit 26 kb
[4] FAZ.Net vom 16.05.2009