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27. Mai 2009, von Michael Schöfer
Nahe dran an der Deflation


In den USA lag die Inflationsrate im April gegenüber dem Vorjahresmonat bei 0,0 Prozent, in Deutschland liegt sie im Mai nach Angaben des Statistischen Bundesamtes voraussichtlich ebenfalls bei Null. Glaubt man den Prognosen der britischen Wochenzeitschrift "The Economist", sind 2009 die Verbraucherpreise in den wichtigsten Wirtschaftsnationen negativ oder nahe der Nullpunktlinie: Japan -1,1 Prozent, USA -0,8 Prozent, China -0,5 Prozent, Deutschland +0,2 Prozent, Frankreich +0,2 Prozent. Momentan plagt uns also eher die Deflationsgefahr, horrende Inflationsraten sind, allen Unkenrufen zum Trotz, zumindest in naher Zukunft kaum zu erwarten. Sieht man sich die Entwicklung der Großhandelspreise an, spricht augenblicklich alles gegen eine galoppierende Inflation.

Die Konjunkturprogramme beginnen offenbar langsam zu wirken, die Auftragslage und die Produktion gehen nicht mehr so stark zurück, wie noch Ende 2008/Anfang 2009. Das Schlimmste habe man demzufolge bereits überstanden, wird vielfach behauptet. Wenn man sich da mal nicht täuscht. Zwar pumpen die Regierungen gegenwärtig Hunderte von Milliarden in die Wirtschaft, doch können sie das natürlich nicht dauerhaft tun, irgendwann muss die Wirtschaft wieder von selbst laufen. Doch tut sie das auch? Das kommt darauf an. Und zwar darauf, was sich unterdessen strukturell verändert.

Die Wirtschaft unterliegt einem Trägheitsgesetz: Wirken keine Kräfte auf sie ein, wird sie ihren Kurs beibehalten. Das heißt, nach dem Auslaufen der Konjunkturprogramme muss sich die Situation im Vergleich zum Status vor der Krise deutlich gebessert haben. Jahrzehntelang war die Wirtschaft hauptsächlich von zurückgehender Massenkaufkraft und wachsender Ungleichheit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung geprägt. Bleibt es dabei, wird sie nach dem Auslaufen der Konjunkturprogramme unweigerlich erneut auf Talfahrt gehen.

Der Versuch, die Konjunktur über die Ausweitung der Verschuldung zu stabilisieren (deficit spending), ist nicht zu kritisieren, selbst wenn die ein oder andere Maßnahme zweifelhaft erscheint. Doch sollten die Verantwortlichen schon jetzt an die Zeit danach denken. Wenn die Realeinkommen der Beschäftigten weiterhin sinken, wenn man die Sozialleistungen wie zuvor peu à peu zurückschraubt, wird sich kaum etwas ändern.

Die Hoffnung, der Exportmotor könnte wieder anspringen und die riesigen Außenhandelsüberschüsse zurückbringen, dürfte sich als Trugschluss erweisen. Wie wir gesehen haben, lag dem grotesk aufgeblasenen Finanzsektor, der keinerlei Bezug mehr zur Realwirtschaft hatte, eine Wahnvorstellung zugrunde, die hoffentlich endgültig beerdigt ist. Doch auch beim Welthandel müssen sich die Verhältnisse drastisch ändern. Die USA können es sich schlicht und ergreifend nicht mehr leisten, ökonomische Wahrheiten über lange Zeiträume hinweg zu ignorieren. Kurz gesagt, sie müssen ihre Position als größter Schuldner korrigieren - entweder indem sie mehr exportieren als importieren oder mit Hilfe einer einschneidenden Abwertung des Dollar. Beide Alternativen sind für exportorientierte Nationen wie die Bundesrepublik wenig attraktiv. Gläubigerstaaten, zum Beispiel China, das riesige Devisenreserven (überwiegend in US-Dollar) besitzt, haben ebenfalls Anlass, mit Sorge in die Zukunft zu blicken.

Was bedeutet das für uns? Wir müssen umverteilen - und zwar von oben nach unten. Einbußen beim Export kann nur der Binnenmarkt auffangen, doch dazu brauchen die Menschen Geld zum Ausgeben, insbesondere die, die beim Einkommen die größten Defizite haben. Diese Umverteilung ist der notwendige Impuls, der der Trägheit der Wirtschaft entgegenwirkt und deren Richtung verändert. Bekanntlich lenken untere und mittlere Einkommensbezieher ihr Geld fast vollkommen in den Konsum. Hier anzusetzen könnte auch das Deflationsgespenst, vor dem wir uns zu Recht fürchten sollten (mehr als vor dem Inflationsgespenst), vertreiben oder wenigstens abmildern.