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05. Juni 2009, von Michael Schöfer
Kaffeesatzleser


Hans-Werner Sinn, der Chef des Ifo-Instituts, hat sich bereits vor Jahren mit seiner letztlich unhaltbaren These von der "Basarökonomie" zu weit aus dem Fenster gelehnt. Nun scheint es ihm Klaus F. Zimmermann, der Präsident des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung), unbedingt gleichtun zu wollen. Er plädiert nämlich für die Erhöhung der Mehrwertsteuer von gegenwärtig 19 auf bis zu 25 Prozent. [1] Was das für den Binnenmarkt bedeuten würde, kann man sich denken: massive Kaufkraftverluste, insbesondere bei den ärmeren Schichten der Bevölkerung. Wie gehabt setzt Zimmermann auf den Export als Wachstumsmotor, ganz so als habe es die aktuelle Wirtschaftskrise nie gegeben. Ob Menschen überhaupt lernfähig sind, ist eine durchaus berechtigte Frage.

Wozu brauchen wir eigentlich solche Wirtschaftswissenschaftler? Ihre neoliberalen Rezepte sind bekanntlich in der Finanzkrise mit großem Getöse untergegangen. Und ihre Prognosen sind meist das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind. Beispiele gefällig?

In seiner Herbstprognose sagte das DIW im Oktober 2007 für Deutschland folgende Wachstumsraten voraus:

2007: +2,4 Prozent (tatsächlicher Wert: +2,5 Prozent)
2008: +2,1 Prozent (tatsächlicher Wert: +1,3 Prozent)
2009: +1,7 Prozent (tatsächlicher Wert im ersten Quartal 2009: -6,7 Prozent)

"Das Wirtschaftswachstum in Deutschland bleibt auch in den kommenden beiden Jahren robust. (...) Das weltwirtschaftliche Umfeld bleibt günstig: Die aktuellen Probleme auf den Finanzmärkten werden wohl kaum auf die Konjunktur durchschlagen", behaupteten die Ökonomen seinerzeit. [2]

Im April 2008 war die deutsche Wirtschaft dem DIW zufolge nach wie vor in einer robusten Verfassung. "Trotz der etwas langsameren Gangart der weltwirtschaftlichen Konjunktur bleiben die Aussichten für die deutsche Konjunktur positiv. (...) Das DIW Berlin rechnet für 2008 mit einer Wachstumsrate von 2,0 Prozent, im nächsten Jahr [2009] werden es immerhin noch 1,6 Prozent sein. Wir stimmen nicht mit dem um sich greifenden Konjunkturpessimismus überein und haben für Deutschland immer noch eine Fortsetzung des Aufschwungs auf der Rechnung. (...) Die Turbulenzen im Zuge der Finanzkrise haben die Konsumdynamik in den USA verlangsamt und die Wachstumsaussichten deutlich reduziert. Damit entwickelt sich die Weltwirtschaft etwas schwächer als noch zu Jahresbeginn erwartet. Zusammen mit dem starken Euro dämpft dies die Ausfuhren der Unternehmen. Allerdings steht ein abrupter Einbruch der Exportkonjunktur in Deutschland nicht bevor. (...) Insgesamt steht die Realwirtschaft in Deutschland - ungeachtet der derzeitigen Bereinigungseffekte im Finanzsektor - auf einem soliden Fundament." [3] Kein "abrupter Einbruch der Exportkonjunktur" und "die Realwirtschaft steht auf einem soliden Fundament"? So kann man sich täuschen.

Selbst im Oktober 2008 sah das DIW keine Weltwirtschaftskrise am Horizont: "Die deutsche Industrie muss für das kommende Jahr mit einer geringeren Wirtschaftsleistung rechnen, ein harter Einschnitt dürfte jedoch ausbleiben." [4]

Konsequenterweise regte Zimmermann später, als niemand mehr die schwere Krise negieren konnte, angesichts der eklatanten Differenz zwischen Prognose und Realität an, "auf die Veröffentlichung neuer Prognosen für eine Weile zu verzichten". [5] Das ist für ein Wirtschaftsforschungsinstitut natürlich der Offenbarungseid, Karl-Theodor zu Guttenberg würde bestimmt die "geordnete Insolvenz" empfehlen. Wirtschaftsforscher sollen verlässliche Voraussagen machen und dadurch beratend tätig sein anstatt der Wirklichkeit ständig hinterherzuhecheln. Wenn sich die dunklen Gewitterwolken partout nicht mehr übersehen lassen, ist es relativ leicht, ein Unwetter zu prophezeien. Dazu braucht man freilich keine Wirtschaftsforschungsinstitute, denn das kann jedes Kind. Wie man an der unsinnigen Forderung, die Mehrwertsteuer auf bis zu 25 Prozent zu erhöhen, sieht, war die Selbstkritik des DIW-Chefs temporärer Natur, jetzt holt sein Institut erneut die längst überholten Rezepte aus dem Keller.

Andere Institute sind bei ihren Prognosen keineswegs treffsicherer, wie nachfolgende Tabelle belegt:

Konjunkturprognosen unddie Realität
Jahr tatsächlicher
Wert [6]
Institut für Weltwirtschaft
(IfW)
Institut für Wirtschafts-
forschung Halle (IWH)
Institutfür Wirtschafts-
forschung e.V.
(ifo)
Rheinisch-West-
fälisches Institut für Wirtschafts-
forschung (RWI)
2007 +2,5% +2,7% [7] +2,6% [9] +2,6% [11] +2,5% [13]
2008 +1,3% +2,4% [7] +2,5% [9] +2,5% [11] +2,6% [13]
2009 -6,7% (1.Q.) +1,6% [8] +2,0% [10] +1,5% [12] +1,8% [14]

Weitere ausgewählte Prognosen in Kurzform:

Pressemitteilung des IfW vom 11. September 2008: "Deutsche Konjunktur: Leichte Rezession absehbar" Leichte Rezession? Am 11. September 2008 vorhergesagt? Nun, vier Tage später ging die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers pleite. Aber das war wohl in der Tat nicht vorhersehbar (Achtung: Ironie!).

IWH-Pressemitteilung 13/2008 vom 18.03.2008, PDF-Datei mit 430 kb: "In Deutschland wird sich die konjunkturelle Dynamik im nächsten Jahr [2009] auf 1,8% beschleunigen. Die Impulse aus dem Ausland werden sich wieder verstärken, und die Binnennachfrage wird auch durch den privaten Konsum kräftig gestützt. (...) Für eine Fortsetzung der wirtschaftlichen Aufwärtstendenz spricht auch die anhaltende Expansion am Arbeitsmarkt."

IWH-Pressemitteilung 26/2008 vom 09.07.2008, PDF-Datei mit 141 kb: "Für ein erneutes Anziehen der Konjunktur in Deutschland im späteren Verlauf dieses Jahres und im kommenden Jahr sprechen vor allem die weiterhin kräftige Ausweitung der Absatzmärkte für deutsche Produkte in den Schwellenländern, die langsame Überwindung der Schwächephase der US-Wirtschaft sowie die Erhaltung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft trotz deutlich gestiegener Lohnabschlüsse. (...) So rechnet das IWH für das Jahr 2009 mit einer nach wie vor hohen konjunkturellen Dynamik."

Der Tagesspiegel vom 25.06.2007: "Der robuste Konjunkturaufschwung in Deutschland wird sich nach Einschätzung des ifo Instituts noch jahrelang fortsetzen und dem Arbeitsmarkt weiteren Schwung verleihen."

Im Gegensatz dazu werden die aktuellen Prognosen immer düsterer, vom berühmten Silberstreif am Horizont ist momentan weit und breit nichts zu sehen. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat gerade ihre Vorhersage für 2009 und 2010 deutlich nach unten revidiert. "Die Wirtschaft in der Euro-Zone wird laut EZB-Prognose 2009 im Mittel um 4,6 Prozent schrumpfen. (...) Für 2010 rechnet die EZB nun mit einer negativen Rate von 0,3 Prozent." [15] Die Deutsche Bundesbank sagt für die Bundesrepublik in diesem Jahr sogar ein Minus von 6,2 Prozent vorher. 2010 soll die deutsche Wirtschaft stagnieren. [16]

Doch selbst in der EZB kommt man scheinbar über Kaffeesatzleserei nicht hinaus: "Das durchschnittliche Jahreswachstum des realen BIP [im Euro-Währungsgebiet] dürfte den Projektionen zufolge 2007 zwischen 2,4 % und 2,8 %, im Jahr 2008 zwischen 1,5 % und 2,5 % und 2009 zwischen 1,6 % und 2,6 % liegen", ließ sie noch vor gut eineinhalb Jahren optimistisch verlauten. [17] Auch die Bundesbank lag im Mai 2008 mit ihrer Prognose, wie man heute weiß, meilenweit daneben: Angebliches Wachstum der deutschen Wirtschaft im Jahr 2008 2,25 Prozent. Und im Jahr 2009 1,5 Prozent. [18]

Übrigens: Der Dax zeigt sich von alledem vollkommen unbeeindruckt und notiert heute bei 5.077,03 Punkten. Vor genau drei Monaten, am 5. März 2009, stand er noch bei 3.695,49 Punkten und hat demzufolge unterdessen um 37,4 Prozent zugelegt. Wahnsinn! Aktienbesitzer mag das freuen, das Ganze belegt allerdings aufs Neue, wie wenig die Aktienmärkte mit dem realen Wirtschaftsgeschehen zu tun haben. Was sich die Spekulanten erhoffen, ist mir ehrlich gesagt völlig schleierhaft. Wahrscheinlich treiben sich auf dem Parkett ähnliche Koryphäen herum wie in den Wirtschaftsforschungsinstituten. Andre Kostolany (1906-1999, amerikanischer Börsenmakler): "Ich gehe gerne in die Börsensäle, denn nirgends auf der Welt kann ich pro Quadratmeter so vielen Dummköpfen begegnen."

Auf die Frage "Welche Kunst muss ein Politiker vor allem beherrschen?" antwortete einst der britische Premierminister Winston Churchill humorvoll: "Zum einen die Kunst, im Voraus sagen zu können, was morgen, in einer Woche, in einem Monat und in einem Jahr geschehen wird. Und schließlich noch die Fähigkeit, hinterher erklären zu können, warum es nicht eingetreten ist." Dies gilt, wie man unschwer merkt, auch für Ökonomen und Banker.

Nun soll man weder ungerecht noch überheblich sein: Wirtschaft ist zugegebenermaßen eine hochkomplexe Angelegenheit, bei der Langzeitprognosen ähnlich mit Unsicherheit behaftet sind wie solche in Bezug aufs Wetter. Die Zunft der Ökonomen hat sich jedoch in der Vergangenheit stets mit einer Aura der Unfehlbarkeit umgeben. Angeblich werden die Verhältnisse in der Wirtschaft allein von den Gesetzen des Marktes (Angebot und Nachfrage) determiniert. Quasi ein Naturgesetz. Jedenfalls versuchten die Wirtschaftswissenschaftler uns das weismachen. Und danach sind hohe Lohnsteigerungen oder Mindestlöhne äußerst schädlich für die Konjunktur. Der ganze Sozialklimbim ist lästig und wachstumshemmend, behaupteten sie. Sämtliche Regierungen, ob Schwarz-Gelb, Rot-Grün oder Schwarz-Rot, gingen ihnen auf den Leim.

Originalton von Ifo-Chef Hans-Werner Sinn:

"Wir leben in einer Marktwirtschaft, und da wird nicht nach Gerechtigkeit entlohnt, sondern nach Knappheit, nach Angebot und Nachfrage. Die Marktwirtschaft ist nicht gerecht, sondern effizient."

"Wie viel Arbeit vorhanden ist, hängt von den Lohnstrukturen in einer Gesellschaft ab. Je niedriger der Lohn, desto mehr Arbeit ist da."

"Wir müssen den Lohn für einfache Arbeit marktmäßig bestimmen lassen. Das heißt, dass der Lohn für solche Arbeit niedriger sein wird als heute."

"Wenn der Mensch billiger ist als der Automat, dann wird er nicht ersetzt."

"Man kann dem Wettbewerb nicht ausweichen. Man muss die Lohnstrukturen akzeptieren, die sich daraus ergeben. Nach unseren Schätzungen müsste der Lohn für einfache Arbeit etwa ein Drittel niedriger sein, um drei Millionen Jobs für Geringqualifizierte zu schaffen. Wir brauchen Lohnstrukturen, die jedem einen Job geben, und sei es für einen Hungerlohn."

"Die große Arbeitslosigkeit ist kein Ergebnis der Marktwirtschaft per se. Sie ist eine Folge des Versuchs, die Löhne unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten festzulegen."

"Die Marktwirtschaft ist ein System, das keine guten Menschen braucht. Marktwirtschaft funktioniert mit dem Menschen so, wie er ist: ein egoistisches profitsüchtiges Individuum, das seinen Konsum maximieren will." [19]

Entlarvend, nicht wahr? Bert Brecht hatte zweifellos recht: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral." Und wenn die professorale Arroganz dann wie eine Seifenblase zerplatzt, weil sich die Herren bei ihren im Brustton der Überzeugung vorgetragenen Prognosen schlicht und ergreifend geirrt haben, brauchen sie sich über Häme und bissige Kommentare nicht zu wundern. Im Börsenkrach von 1929 ging schon einmal eine ganze Generation von Kaffeesatzlesern unter, einfach weil ihnen niemand mehr glauben wollte. "Es ist wirklich dumm, dass ein Prophet, der sich irrt, immer gerade dann seine Zuhörer verliert, wenn er ihnen erklären will, warum er sich geirrt hat." [20] Anschließend kam die Zeit eines gewissen John Maynard Keynes. Manche Ereignisse wiederholen sich. Hoffentlich.

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[1] FAZ.Net vom 04.06.2009
[2] DIW, Pressemitteilung vom 16.10.2007
[3] DIW, Pressemitteilung vom 02.04.2008
[4] DIW, Pressemitteilung vom 31.10.2008
[5] DIW, Pressemitteilung vom 19.12.2008
[6] Statistisches Bundesamt für 2007 und 2008, Statistisches Bundesamt für erstes Quartal 2009
[7] Pressemitteilung des IfW vom 13. September 2007
[8] Pressemitteilung des IfW vom 13. Dezember 2007
[9] IWH-Pressemitteilung 26/2007 vom 12.07.2007, PDF-Datei mit 25 kb
[10] IWH-Pressemitteilung 44/2007 vom 20.10.2007, PDF-Datei mit 28 kb
[11] ifo Konjunkturprognose 2007/2008: Aufschwung mit niedrigerem Tempo vom 25.06.2007, PDF-Datei mit 34 kb
[12] ifo Konjunkturprognose 2008 vom 13.12.2007, PDF-Datei mit 48 kb
[13] Pressemitteilung vom 18.06.2007, RWI Essen erhöht seine Konjunkturprognose für 2007
[14] Pressemitteilung vom 18.03.2008, RWI Essen: Deutsche Konjunktur derzeit im Zwischentief
[15] Spiegel-Online vom 04.06.2009
[16] FAZ vom 05.06.2009
[17] EZB, Monatsbericht Dezember 2007, Seite 80, PDF-Datei mit 3,5 MB
[18] Deutsche Bundesbank, Pressenotiz vom 06.06.2008, Neue Wirtschaftsprognose für Deutschland
[19] Chrismon 03/2006, Streitgespräch zwischen dem Leipziger Pfarrer Christian Führer und Hans-Werner Sinn
[20] John Kenneth Galbraith, Der große Crash 1929, Seite 186