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25. Juni 2009, von Michael Schöfer
Strategische Fehler


Alles hängt irgendwie mit allem zusammen, das merken wir in unseren Tagen vielleicht noch viel stärker als früher. Beispiel Iran: Heute beklagen wir, dass es im Gottesstaat keine Demokratie gibt und die Iraner ihr Leben riskieren, wenn sie gegen den Wahlbetrug bei der letzten Präsidentschaftswahl protestieren. Hätte die CIA 1953 nicht den iranischen Premierminister Mossadegh wegputschen lassen (Operation Ajax), bloß weil er die Verstaatlichung der iranischen Ölindustrie betrieb, die sich damals mehrheitlich im Besitz der Briten befand, wären die Mullahs vermutlich nie an die Macht gekommen. Aber mit tatkräftiger Hilfe des Diktators Mohammad Reza Pahlavi und seines Geheimdienstes SAVAK war die spätere Revolution gewissermaßen vorgezeichnet. Die äußerst kurzsichtige Politik, frei nach dem Motto "Natürlich weiß ich, dass er ein Hurensohn ist, aber er ist wenigstens unser Hurensohn" (US-Präsident Franklin D. Roosevelt über Nicaraguas Diktator Somoza), hat später auch in anderen Regionen (Batista, Kuba) kläglich versagt. Langfristig wäre es zweifelsohne besser gewesen, den harten Einschnitt der Verstaatlichungspolitik von Mossadegh hinzunehmen. Doch seit wann denken Politiker langfristig?

Szenenwechsel: Die Weltwirtschaft liegt momentan wegen der Finanzkrise danieder. Hoch und heilig versprechen uns die Politiker, derartige Verwerfungen niemals mehr zuzulassen. Leeres Gerede. Wenn sich heute selbst Vertreter des Establishments, wie etwa der BASF-Aufsichtsratschef Eggert Voscherau, darüber beschweren, dass "die Macht des Systems ungebrochen" ist und bislang nichts Substanzielles umgesetzt wurde, "um eine Wiederholung zu vermeiden", müssten eigentlich sämtliche Alarmglocken läuten. "Bisher sei keines der riskanten Finanzinstrumente verboten, es gebe noch immer Kreditverbriefungen und spekulative Versicherungsscheine. 'Die Wall Street hat bisher nur eine Schlacht verloren, nicht den Krieg', warnte Voscherau. 'Das Imperium hat sich behauptet', die Politik aber 'scheut die Machtfrage', fügte er hinzu. (...) Es gebe zwar Kontrollen für Lebensmittel und Kartoffeln, Leerverkäufe an den Börsen seien aber nach wie vor nicht verboten." [1] Es wird weiter Monopoly gespielt, ganz so als ob nie etwas passiert wäre.

Die Gier ist in der Tat ungebrochen. Beispiel LBBW: Obgleich das Land Baden-Württemberg seine Landesbank mit Milliardenhilfe vor der Pleite retten musste (2008 erreichte das Defizit 2,5 Mrd. Euro), schüttet die LBBW 25 Mio. Euro Boni an ihre Beschäftigten aus. Für was eigentlich? "Der Personalratsvorsitzende der LBBW, Norbert Zipf, sprach von einer 'angemessenen Kompensation auf niedrigem Niveau'." [2] Da ist man zunächst baff. Hier von einem totalen Realitätsverlust zu sprechen, ist noch die mildeste Formulierung, die man findet. Doch die Politik spielt offenbar mit.


Es klingt angesichts der Lage der Bank wie Hohn: Eigenwerbung LBBW


Und es kommt sogar noch besser: Solange die LBBW Verluste macht, sollte bei der Landesbank eine Gehaltsobergrenze von 500.000 Euro gelten. Das hat der Landtag Mitte März einstimmig (!) beschlossen. Zwei Monate später war der Beschluss bereits Makulatur. "Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) sagte, die Suche nach einem 'neuen starken Mann' für die LBBW wäre mit einem Deckelbeitrag von 500.000 Euro aussichtslos gewesen. (...) Über das geplante Gehalt für den kommenden Vorstandschef Hans-Jörg Vetter dürfe er keine Auskunft geben." [3] Als Chef der Landesbank Berlin erhielt Vetter 2008 insgesamt 1,75 Mio. Euro - und weniger wird er auch bei der LBBW nicht verdienen, behaupten Gerüchte.

Da fragt man sich, was die Verantwortlichen wollen. Soll auch der brave Bürger den Banken wutentbrannt die Scheiben einschlagen, nicht bloß die kleine Schar Autonomer? Wollen die das wirklich? Ich muss sagen, dann sind sie auf dem besten Weg dazu. Wenn sich durch die jetzige Finanzkrise nichts grundlegend ändert, kommt demnächst unweigerlich eine neue. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ob die Menschen dann allerdings erneut die Sozialisierung der Verluste hinnehmen werden, ist fraglich. Aber eventuell spekulieren die Verantwortlichen ja auch auf die Dummheit des Wählers. Wenn ich mir die Ergebnisse der Umfragen vor Augen halte, denen zufolge Schwarz-Gelb gegenwärtig mit einer satten Mehrheit von 51 Prozent rechnen kann (CDU/CSU 36 Prozent, FDP 15 Prozent, Forsa-Umfrage vom 24.06.2009), haben sie vielleicht gar nicht so unrecht. Wenn Politiker, egal was sie tun, immer wiedergewählt werden, verarschen sie ja die Wählerinnen und Wähler zu Recht. Warum sollten sie ihr Verhalten ändern?

Bei dieser Gelegenheit fällt mir immer der Spruch von Marie Antoinette ein: "Wenn die Armen kein Brot haben, sollen sie Kuchen essen!" Was folgte, ist allgemein bekannt. Man darf die Wut, die man erzeugt, eben nie unterschätzen. Die Amerikaner haben in den fünfziger Jahren die langfristigen Folgen der Absetzung des iranischen Premierministers Mossadegh sträflich unterschätzt. Ali Chamenei und Mahmud Ahmadinedschad gewiss auch die Reaktion der Iraner auf ihren plumpen Versuch, die Präsidentschaftswahl zu fälschen. Nichts geschieht folgenlos. Manchmal treten die negativen Konsequenzen strategischer Fehler erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten zutage. Falls die aktuelle Finanzkrise wirkungslos verpufft, könnte sich das rückblickend betrachtet ebenfalls als strategischer Fehler erweisen. Fragen Sie mal heute die Amerikaner, ob sie Mossadegh noch einmal stürzen würden. Wohl kaum. Heute würden sie ihn - im Vergleich zu den Mullahs - bestimmt als das kleinere Übel bezeichnen. Und fragen Sie mal Angela Merkel in zwanzig Jahren, ob sie ihre augenblickliche Untätigkeit dann nicht ebenso bereut. Ich weiß, das geht gar nicht. Deshalb dürfen zumindest wir, die Wählerinnen und Wähler, bei der Bundestagswahl keinen strategischen Fehler begehen. Wir haben es, anders als die Situation im Iran, selbst in der Hand.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 23.06.2009
[2] Stuttgarter Zeitung vom 23.06.2009
[3] Der Tagesspiegel vom 12.05.2009