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08. August 2009, von Michael Schöfer
Ist die Geburtenrate irrelevant?


Als Thomas Robert Malthus 1798 seine Bevölkerungstheorie vorlegte, war seine These durchaus plausibel. Die Bevölkerungszahl, so Malthus, steige exponentiell (1 - 2 - 4 - 8 - 16 - 32 - 64 - 128...), die Nahrungsmittelproduktion hingegen linear (1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - 10...), folglich müsse es gezwungenermaßen zu einer enormen Nahrungsmittelkrise kommen. Obgleich die Weltbevölkerung in der Tat exponentiell ansteigt, ist es bislang durch den technischen Fortschritt nicht zu einer globalen Nahrungsmittelkrise gekommen (die Hungerkatastrophen unserer Zeit resultieren aus einem Verteilungsproblem bzw. kriegerischen Konflikten).

Der Nationalsozialismus propagierte die Lebensraum-Theorie, aus der er seine nach außen gerichtete Aggressivität schöpfte (Stichwort: Volk ohne Raum). Mit diesem "Schlagwort wurde suggeriert, dass Not, Elend, Hunger und Armut auf die Überbevölkerung Deutschlands zurückzuführen sei und man deswegen im 'Kampf ums Dasein' neues Land erobern müsse. Eng verbunden damit war die Behauptung, die Erde sei aufgeteilt und es wäre ungerecht, dass ein so großes Volk wie das deutsche so wenig Land besäße." [1]

1925 lebten in Deutschland 62,4 Mio. Menschen, das waren 133 Einwohner pro qkm. [2] Heute leben in der flächenmäßig wesentlich kleineren Bundesrepublik (357.104 qkm gegenüber 468.787 qkm) 82 Mio. Menschen, das sind 230 Einwohner pro qkm. [3] Damit leben derzeit in Deutschland 31,5 Prozent mehr Menschen auf einem mittlerweile um 23,8 Prozent geschrumpften Staatsgebiet. Und das zweifellos auf einem ungleich höheren ökonomischen Niveau. Glänzender kann man die Lebensraum-Theorie, also die Koppelung des Wohlstands an eine bestimmte Fläche, nicht widerlegen.

Der AG Energiebilanzen zufolge betrug der Primärenergieverbrauch in Deutschland 1990 14.905 Petajoule, 2008 waren es 14.003 Petajoule. Im gleichen Zeitraum hat sich allerdings das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt von 1.719,3 Mrd. Euro auf 2.270,4 Mrd. Euro erhöht. [4] Obgleich das BIP zwischen 1990 und 2008 um 32,1 Prozent gewachsen ist, hat der Primärenergieverbauch Deutschlands um 6,1 Prozent abgenommen. Das ist das Resultat einer besseren Energieeffizienz. Die früher weitverbreitete Behauptung, wonach ein Ansteigen des wirtschaftlichen Wohlstands zwangsläufig zu einem Ansteigen des Energieverbrauchs führt, stimmt nicht mehr.

Um nicht missverstanden zu werden: Der Natur ist es egal, welches Sozialprodukt wir mit einer gegebenen Menge Energie erwirtschaften, für die Natur (und damit den Umweltschutz) ist allein der absolute Energieverbrauch relevant (zumindest soweit er auf fossilen Energieträgern basiert). Die Internationale Energie-Agentur (IEA) prognostiziert bis zum Jahr 2030 eine Steigerung der weltweiten Energienachfrage um 45 Prozent. "Weil 2030 vier Fünftel des Primärenergiebedarf durch fossile Quellen - hauptsächlich Öl und Kohle - gedeckt würden, stiegen auch die weltweiten Kohlendioxid-Emissionen um 45 Prozent. Statt heute 28 Gigatonnen würden 2030 gewaltige 41 Gigatonnen Kohlendioxid in die Luft geblasen. (...) Eine globale Temperaturerhöhung bis um 6 Grad Celsius wäre die Folge. Die Stabilisierung der Konzentration der Treibhausgas-Emissionen von heute 383 auf 550 ppm (parts per million) Kohlendioxid-Äquivalente im Jahr 2030 würde den Temperaturanstieg auf ungefähr 3 Grad Celsius beschränken. Dazu dürfen die energiebedingten Kohlendioxid-Emissionen bis 2030 nicht über 33 Gigatonnen ansteigen, längerfristig müssten sie sogar fallen." [5]

Nun wollen uns Bevölkerungspolitiker einreden, der Geburtenrückgang würde in Deutschland unvermeidlich zu großen ökonomischen Verwerfungen führen (Stichwort: demographischer Wandel). Insbesondere was die Finanzierung der Rente angeht wirke sich der prognostizierte Bevölkerungsrückgang verheerend aus. Deutsche Frauen bekommen zu wenig Kinder, 2007 waren es laut Statistik nur 1,37 Geburten pro Frau. [6] Um den Bevölkerungsstand stabil zu halten, wären jedoch 2,1 Geburten pro Frau notwendig. In jüngster Zeit hat es sich insbesondere die Übermutter der Nation, Ursula von der Leyen (sieben Kinder!), zur Aufgabe gemacht, die Lebensverhältnisse der Frauen zu verbessern. Ihr Ziel ist vor allem die bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienleben. Daran ist natürlich nichts auszusetzen, freilich hat sie mit ihren bisherigen Maßnahmen, etwa der Einführung des einkommensabhängigen Elterngeldes, wenig erreicht (die Geburtenziffer ist im ersten Jahr der Einführung gegenüber dem Vorjahr von 1,331 auf lediglich 1,370 gestiegen). Die weitere Entwicklung ist daher erst abzuwarten.

Doch stimmt überhaupt die Grundannahme, dass der demographische Wandel unvermeidlich zu großen ökonomischen Verwerfungen führen wird? Könnte man sich diesbezüglich nicht irren? Schließlich haben sich inzwischen auch Malthus' unausweichliche Nahrungsmittelkrise, die nationalsozialistische Lebensraum-Theorie und, wenigstens was die Bundesrepublik angeht, die Koppelung von Wachstum und Energieverbrauch als falsch herausgestellt. Sofern die Rente an die Beiträge der Arbeitnehmer gekoppelt ist, gerät die Rentenversicherung durch den prognostizierten Rückgang der Arbeitnehmer tatsächlich in die Bredouille. (Die Diskussion, ob mehr Kinder wirklich zu mehr Erwerbstätigkeit führen, lasse ich hier bewusst außer Acht. Was das angeht wird nämlich meist die drohende Arbeitslosigkeit der Kinder ignoriert. Systembedingt nutzen der Rente unter den heutigen Voraussetzungen nur Kinder, die später auch Arbeit finden.) Wenn man indes die Rentenzahlungen von den Rentenbeiträgen der Arbeitnehmer entkoppelt, stimmt vielleicht die ganze Prognose nicht mehr. Die Leistungen der Rente sind in jedem Jahr aus dem jeweiligen Sozialprodukt zu erwirtschaften (übrigens gleichgültig, ob privat oder gesetzlich). Woher die Rentenbeiträge stammen, ist im Grunde egal, sie könnten sich demzufolge auch aus Steuern speisen. Haben die Kassandras also unrecht?

Ich höre schon den Einwand, eine reduzierte Bevölkerung wird weniger konsumieren, ergo wird auch das Sozialprodukt sinken. Doch ist der Einwand stichhaltig? Bis 2050 soll die Einwohnerzahl Deutschlands je nach Verlauf zwischen 69 und 74 Mio. betragen, das wäre ein Rückgang um 16,2 bzw. 10,2 Prozent. [7] Wenn 2050 eine um 16,2 Prozent gesunkene Bevölkerung 16,2 Prozent mehr erwirtschaftet, wird der Bevölkerungsrückgang kompensiert. Unrealistisch? Wohl kaum. Wie wir oben gesehen haben, ist allein zwischen 1991 und 2008 das Bruttoinlandsprodukt real um 32,1 Prozent gewachsen. Selbstverständlich ist es nicht unwichtig, wie das Sozialprodukt zustande kommt und vor allem wie es verteilt wird. In einer älteren Gesellschaft muss es notwendigerweise zu Anpassungen kommen, doch müssen die nicht unvermeidlich in einen Rückgang der Rentenleistungen münden. Das Problem ist jedenfalls keineswegs unlösbar, selbst wenn sich die momentan niedrige Geburtenrate auch künftig kaum erhöht. Ohnehin wird man die Frauen kaum zu einer erheblichen Steigerung der Reproduktionsrate zwingen können (wenn überhaupt, geht das nur freiwillig, über entsprechende Anreize).

Fazit: Die derzeit niedrige Geburtenrate ist für Deutschland, anders als man uns einzureden versucht, keinesfalls eine gigantische Katastrophe von geradezu biblischen Ausmaßen. Nicht unproblematisch, aber beherrschbar. Und alarmistische Schlagzeilen wie "Deutschland stirbt aus" sind vollkommen unberechtigt. Die Europäer haben im vergangenen Jahrhundert zwei von Deutschland entfachte Kriege überstanden, im Vergleich dazu sind die demographischen Probleme sicherlich minimal. Immerhin ist von diesen gravierenden Einschnitten - ökonomisch betrachtet - nichts mehr zu spüren.

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[1] Wikipedia, Volk ohne Raum
[2] Wikipedia, Liste der Volkszählungen in Deutschland, Deutsches Reich
[3] Wikipedia, Deutschland
[4] AG Energiebilanzen, Energieverbrauch in Deutschland im Jahr 2008, Seite 5, PDF-Datei mit 397 kb
[5] Max-Planck-Institut für Plasmaphysik
[6] Statistisches Bundesamt
[7] Statistisches Bundesamt