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| Impressum 13. September 2009, von Michael Schöfer Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität Statistiken haben ihre Tücken. Dies gilt insbesondere für die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Nein, ich komme Ihnen jetzt nicht mit dem unzulässigerweise Winston Churchill zugeschriebenen Motto: "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." Bei jeder Statistik ändern sich gelegentlich die Erfassungsrichtlinien, weshalb die Daten mitunter über längere Zeiträume hinweg nicht mehr miteinander vergleichbar sind. Aber bei der PKS kommen noch einige Besonderheiten hinzu. Erstens spiegelt sich der gesellschaftliche Wandel natürlich auch in der Kriminalstatistik wider (Stichwort: Strafrechtsänderungen). So war etwa früher das Schlagen von Kindern im Rahmen der elterlichen Erziehung erlaubt, heute ist es dagegen gesetzlich verboten (BGB § 1631). Auch der berühmt-berüchtigte Kuppeleiparagraph ist zum Glück längst Geschichte (wenn z.B. Eltern der Unzucht ihrer Tochter oder ihres Sohnes durch Gewährung oder Beschaffung von Gelegenheit Vorschub leisteten, als unzüchtig galt damals sogar der Geschlechtsverkehr von Verlobten). Zweitens spielt die technologische Entwicklung eine wichtige Rolle. Straftaten im Internet waren vor 25 Jahren in Ermangelung des Internets natürlich vollkommen unbekannt. Das Gleiche gilt für Straftaten, bei denen Geldautomaten eine Rolle spielen (z.B. Skimming). Drittens lässt eine höhere Anzeigebereitschaft die PKS anschwellen, damit ist aber nicht unbedingt eine tatsächliche Erhöhung der Kriminalität verbunden. Letztere kann nämlich trotz steigender Anzeigebereitschaft gleich geblieben oder gar gesunken sein. Viertens haben Änderungen in der Bevölkerungsstruktur einen großen Einfluss auf die Kriminalitätsentwicklung, die soziologische Zusammensetzung der Menschen in der Bundesrepublik ist 2009 zweifellos eine ganz andere als im Gründungsjahr (1949). Noch eine letzte Vorbemerkung: Wegen der Vergleichbarkeit der Daten wird bei der Darstellung der Kriminalitätsentwicklung im Allgemeinen die Häufigkeitsziffer (Fälle pro 100.000 Einwohner) benutzt. Die absolute Anzahl der Straftaten interessiert weniger, da sie durch starke Veränderungen der Einwohnerzahl (Stichwort: Wiedervereinigung) nicht unerheblich verzerrt wird. Bei einer jüngst veröffentlichten Forsa-Umfrage "gaben 61 Prozent der Befragten an, die Kriminalität habe ihrem Eindruck nach in den vergangenen Jahren zugenommen." [1] Nichts könnte falscher sein: Die Kriminalität nimmt ab - und das seit Jahren. Den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung registrierten die Kriminalstatistiker im Jahr 1993, und zwar mit einer Häufigkeitsziffer (HZ) von 8.336,7. Im Jahr 2008 stand die HZ bei 7.436,5 Straftaten pro 100.000 Einwohner (ein Minus von 10,8 Prozent). Das soll die vorhandene Kriminalität keineswegs bagatellisieren, jedoch deren Verlauf präziser wiedergeben. ![]()
Früher war alles besser", behauptet der Volksmund. Dass dem gerade in Bezug auf die Kriminalitätsentwicklung nicht so ist, soll folgendes Beispiel dokumentieren: In den fünfziger und sechziger Jahren war der sexuelle Missbrauch von Kindern überraschenderweise deutlich höher als heute. 1955 lag die Häufigkeitsziffer dieses Delikts bei 31,9, und im Jahr 1965 bei 29,9. [3] Dass sie im vergangenen Jahr bei 14,7 lag, und damit um 53,9 Prozent unter (!) dem Wert Mitte der fünfziger Jahre, belegt die tiefe Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität. Kein Wunder, da die Medien genau das Gegenteil suggerieren: Angeblich ist die Welt voller Kinderschänder, und scheinbar wird es immer schlimmer. Mit unserem von biederen Heimatfilmen geprägten Bild der fünfziger Jahre ist diese Erkenntnis nicht in Einklang zu bringen, doch hinter dem stets lustigen Heinz Erhardt lauerten offenbar wesentlich mehr dunkle Gestalten, als wir heute annehmen. Kriminalität ist ein weites und komplexes Feld - viel zu komplex, um es hier erschöpfend abzuhandeln. Wie auch, füllt doch die Auseinandersetzung mit diesem Thema inzwischen ganze Bibliotheken. Die Meinung, die fast zwei Drittel der Bundesbürger vertreten (dass die Kriminalität zunimmt), widerspricht jedenfalls der Realität. ---------- [1] Zeit-Online vom 10.09.2009 [2] Bundeskriminalamt, PKS-Zeitreihen für den Zeitraum von 1987 bis 2008, Grundtabelle 01 mit Häufigkeitszahl aber ohne Tatortgrößenklassen, PDF-Datei mit 732 kb [3] BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik 1989, Seite 198 |