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01. Oktober 2009, von Michael Schöfer
Die Agonie geht weiter


Jede Partei braucht Aushängeschilder. Schade, dass bei den Sozialdemokraten vor allem Persönlichkeiten Schlagzeilen machen, die bei der Bevölkerung immer wieder Brechreiz auslösen. Wolfgang Clement etwa, der spätestens seit seinem Parteiaustritt sogar dem SPD-Establishment gehörig auf die Nerven geht. Auch der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin schimpft gerne über alles und jeden. Mitgefühl scheint ihm völlig fremd zu sein, potenzielle SPD-Wähler fühlen sich durch seine Ausfälle regelmäßig vor den Kopf gestoßen. Aber Sarrazins Appelle an die primitiven Instinkte bringen ihm noch nicht einmal an den Stammtischen Pluspunkte. Das will etwas heißen. Man wundert sich wirklich, wie viele von dieser Sorte bei der SPD Karriere machen durften.

"Am 30. August den Wechsel wählen", plakatierte die thüringische SPD vor der Landtagswahl - nun sichert der SPD-Landesvorsitzende Christoph Matschie der CDU die Macht. Von Wechsel weit und breit keine Spur. Schwarz-Rot ist im Bund gerade mit einem lauten Knall kollabiert, und jetzt etabliert Matschie in Thüringen ausgerechnet Schwarz-Rot. Es gibt Strategien, die versteht niemand. Zur Erinnerung: Die SPD erreichte am 30. August lediglich 18,5 Prozent. Die Frage ist, wer wird Matschie in Zukunft überhaupt noch wählen?

Eine Ebene höher hat die SPD-Spitze dieser Tage wichtige Pöstchen neu verteilt. Ohne Beteiligung der Basis, versteht sich. Steinmeier, der der SPD das schlechteste Wahlergebnis seit 1949 bescherte, darf zur Belohnung den Vorsitz der Bundestagsfraktion übernehmen. Sigmar Gabriel, das politische Ziehkind Gerhard Schröders, wird Parteivorsitzender. Wenn die Wahlanalysen stimmen, die sagen, dass die "Agenda 2010" und die "Rente mit 67" der SPD das Genick brachen, dürften die Personalentscheidungen mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. Steinmeier, der Architekt der Agenda-Politik, und Gabriel, der sie stets befürwortete, stehen wohl kaum für einen überzeugenden Neuanfang.

Andererseits ist das Personaltableau der SPD inzwischen äußerst dürftig. Markante, kritische und vor allem von der Agenda-Politik unbelastete Persönlichkeiten sind rar. Wie ausgezehrt die Sozialdemokratie heute ist, tritt jetzt offen zutage. Die zunehmend gebrechlicher wirkende Tante SPD scheint der letzten Ölung näher zu sein als einem furiosen Comeback. Die Fähigkeit zur Zuspitzung kann man Gabriel nicht absprechen, doch die hatte Gerhard Schröder auch. Und wo ist er damit am Ende gelandet? Zur Erneuerung braucht die SPD vor allem Substanz und Glaubwürdigkeit, aber die besitzen weder Steinmeier noch Gabriel. Die Agonie geht somit weiter.