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03. Oktober 2009, von Michael Schöfer
Enttäuschte Liebe


Für viele Menschen verkörperte die SPD die Partei gewordene Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft. Und sie verbanden damit zugleich den Wunsch, auf dem Weg zu dieser gerechten Gesellschaft die demokratischen Grundwerte zu bewahren. Gerechtigkeit versprachen auch die Kommunisten, sie diskreditierten sich allerdings dort, wo sie an der Macht waren, durch ihre freiheitsfeindlichen Methoden. Zumindest in Westdeutschland konnten Kommunisten deshalb nie richtig Fuß fassen. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit fokussierte sich demzufolge lange Zeit auf die SPD.

Doch das ist spätestens seit Gerhard Schröders Agenda-Politik vorbei. Seit Hartz IV das Licht der Welt erblickte, ängstigt sich die in Bedrängnis geratene Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg. Zu Recht, der Fall auf die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter dauert nicht mehr lang. Und zahlreiche Arbeitslose sind bereits abgestiegen. Das Verhältnis der SPD-Wähler zu ihrer Partei ist folglich mit dem eines Liebhabers zu vergleichen, der erschrocken feststellt, dass seine Angebetete in Wahrheit anders ist und nicht dem Bild entspricht, das er er sich von ihr gemacht hat. Nun erkennt er mit einem Mal, dass er sich törichten Illusionen hingab. Ernüchterung kehrt ein.

Diese Ernüchterung spiegelt sich im Wahlergebnis der Bundestagswahl 2009 wider. Das Zweitstimmenergebnis der Sozialdemokraten stürzte auf 9,98 Mio. Stimmen ab. [1] 1998, bei der furiosen Abwahl Helmut Kohls, waren es noch 20,18 Mio. [2] Die SPD hat es also tatsächlich geschafft, ihre Wählerschaft innerhalb von 11 Jahren Regierungszeit zu halbieren. Wirklich eine stolze Leistung. Die Linke profitierte davon jedoch nur zum Teil. Während die Linke seit der letzten Bundestagswahl im Jahr 2005 ihr Zweitstimmenergebnis von 4,11 Mio. auf 5,15 Mio. ausbauen konnte, sank der Zweitstimmenanteil der SPD von 16,19 Mio. auf besagte 9,98 Mio. [3] Die Linke gewann somit eine Million Stimmen, die SPD verlor hingegen mehr als sechs Millionen.


Zweitstimmenergebnis der SPD
1998 20.181.269
2002 18.488.668
2005 16.194.665
2009 9.988.843

Mit anderen Worten: Die Linke zog zwar zahlreiche enttäuschte SPD-Wähler zu sich herüber, konnte freilich das Gros der abwanderungswilligen SPD-Wähler nicht von sich überzeugen. Ein Blick auf die Wählerwanderung zeigt das deutlich.


[Quelle: tagesschau.de]

Der mit Abstand größte Teil der ehemaligen SPD-Wähler zog es vor, diesmal nicht zu wählen. Einen glaubwürdigen Politikwechsel vorausgesetzt, könnten die Sozialdemokraten vielleicht einen Teil ihrer früheren Wähler zurückholen. Enttäuschte Liebhaber lassen sich bekehren, sobald das Objekt der Begierde wieder attraktiv erscheint. Liebe stirbt selten ganz, meist schließt man sie nach ihrem Ende bloß in ein kleines Kämmerchen des Herzens ein. Dort ruht sie dann still vor sich hin, bleibt aber potenziell rückholbar. Manchmal genügt ein kleiner Impuls, um sie erneut auflodern zu lassen. Allerdings: Je mehr Zeit vergeht, desto größer ist die Gefahr, dass man inzwischen eine andere liebgewonnen hat. Und bekanntlich entwickelt sich aus enttäuschter Liebe zuweilen sogar Hass.

Die Lage der SPD ist daher kritisch, aber nicht vollkommen hoffnungslos. Die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft wird nie enden. Es geht lediglich darum, mit wem man sie am liebsten stillen würde. Ob die Linke dafür langfristig genug Attraktivität erwirbt, ist fraglich. Ausschließen kann man jedoch nichts. Wenn die SPD weitermacht wie bisher, ist jedenfalls der weitere Abstieg vom Olymp der Volksparteien vorprogrammiert.

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[1] Bundeswahlleiter
[2] Bundeswahlleiter
[3] Bundeswahlleiter