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18. November 2009, von Michael Schöfer
Liebe Studenten,


mit Interesse und Sympathie verfolge ich Euren Kampf um bessere Studienbedingungen. Dass Ihr mit den Studiengebühren und der Ausgestaltung des Bachelor-Studiengangs unzufrieden seid, kann ich sehr gut nachvollziehen. Ihr macht Euch Sorgen um Eure Zukunft, das ist legitim.

Es gab vor Euch schon etliche Studentengenerationen, die protestierten und demonstrierten. So führte etwa, wen wundert's, die Französische Revolution zu einer starken Politisierung der damaligen Studentenschaft. Auch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts trieb es zahlreiche Studenten auf die Straße. Und in den Hörsälen erklang der Ruf: "Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren."

Allerdings ist mir eines aufgefallen: Ihr protestiert nur für Euch, nicht für andere. In den sechziger Jahren protestierten die Studenten noch gegen den Vietnam-Krieg und den Besuch des Schahs von Persien. Damals ging es also nicht bloß um bessere Studienbedingungen, es ging auch um die Verwirklichung von Idealen. Kurzum, die vielgeschmähte 68er-Generation kämpfte für eine bessere Welt. Ihr vermittelt hingegen den Eindruck, als ginge es Euch ausschließlich um bessere Karrierechancen.

Dabei gäbe es so viel, gegen das man seine Stimme erheben müsste. 1,02 Mrd. Menschen hungern - ein Sechstel der Menschheit. Jeden Tag sterben 25.000 Menschen an Unterernährung, 13.000 davon sind Kinder. [1] Studentenproteste? Fehlanzeige!

Die Menschheit hat im vergangenen Jahr 31,9 Mrd. Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre geblasen, damit ist der jährliche CO2-Ausstoß seit dem Jahr 2000 um 29 Prozent gestiegen. [2] Die Erwärmung der Erdatmosphäre setzt sich ungebremst fort, viele Wissenschaftler befürchten mittlerweile irreversible Schäden. Gleichwohl werden die Politiker die Klimakonferenz in Kopenhagen aller Voraussicht nach scheitern lassen, ein verbindliches Abkommen ist jedenfalls nicht in Sicht. Studentenproteste? Fehlanzeige!

Man soll nicht unfair sein, natürlich sind Studenten an den Protesten gegen den Hunger oder die Klimakatastrophe beteiligt. Aber es sind lediglich Einzelne, keine ganze Bewegung. Und ich frage mich, woran das wohl liegt. Seid Ihr tatsächlich total unpolitisch geworden? Erhebt Ihr Eure Stimme nur, wenn Ihr selbst betroffen seid? Ist Euch das Schicksal von anderen egal? Geht es Euch nur darum, etwas vom Kuchen abzubekommen? Früher ging es mal um die gerechtere Verteilung des Kuchens selbst, ein fundamentaler Unterschied, doch daran seid Ihr offenbar nicht interessiert.

Liebe Studenten, ich unterstütze Euren Kampf gegen die Studiengebühren. Auch der Bachelor-Studiengang soll meinetwegen reformiert werden. Und ich zahle gern Steuern für bessere Bildungschancen. Wohlgemerkt, bessere Bildungschancen für alle, nicht bloß für Studenten. Zum Ausgleich wünsche ich mir von Euch etwas mehr gesellschaftlichen Protest, ein bisschen mehr Sensibilität gegenüber den wirklich wichtigen Problemen. Ist das zu viel verlangt?

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[1] mdr vom 16.11.2009
[2] Süddeutsche vom 18.11.2009