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20. Dezember 2009, von Michael Schöfer
Das Klima-Desaster


Ich nehme zwar zur Kenntnis, dass man in der Stadt ein Geschwindigkeitslimit von 50 km/h einhalten sollte, verweigere aber die verbindliche Festlegung über das tatsächlich von mir zu fahrende Tempo. Radarkontrollen lehne ich ebenfalls ab, Strafen für Geschwindigkeitsüberschreitungen erkenne ich nicht an.

Ob ich mit einer solchen Haltung vor Gericht durchkäme? Wohl kaum. Doch genau das ist die Quintessenz des Klima-Gipfels von Kopenhagen. Das Abschlussdokument wurde von der Versammlung nicht vereinbart, sondern lediglich "zur Kenntnis genommen". "Zwar wird das Ziel benannt, den Anstieg der Erderwärmung auf weniger als zwei Grad Celsius zu begrenzen. Doch an keiner Stelle wird erklärt, wie, wann und von wem es erreicht werden soll. Alle Kriterien, die die Europäer festgelegt wissen wollten, fehlen: Es gibt keine Ziele für die Senkung des weltweiten Ausstoßes von Kohlendioxid, die angestrebte Halbierung bis 2050 rückt in weite Ferne. Es gibt keine Abbauvorgaben für jene Staaten, die sich nicht wie die EU und Japan dem Kyoto-Protokoll unterworfen haben - allenfalls freiwillige Ankündigungen ohne Überprüfung. Die weltweit größten Kohlenstoffverbraucher und CO2-Emittenten China und Amerika, auch Indien, Brasilien, Südafrika und andere wollen sich nicht auf internationale Minderungsziele einlassen. Erst recht nicht wollen sie diese in einem völkerrechtlich bindenden Vertrag aufgeschrieben sehen." [1]

Okay, sehen wir den Tatsachen ins Auge: Das war's! Die Menschheit ist offenbar nicht imstande, die Erwärmung des Erdklimas zu begrenzen. Die Klima-Konferenz in Kopenhagen war dafür die letzte Chance. Die Zeit für die Einleitung von Gegenmaßnahmen war ohnehin knapp, doch jetzt werden aller Voraussicht nach weitere Jahre, in denen nichts oder nicht genug passiert, ins Land gehen. In ein paar Jahren ist es dann für die Stabilisierung des Weltklimas auf maximal zwei Grad zu spät. Nun bleibt uns nicht anderes, als uns auf die Folgen zu konzentrieren und mit ihnen möglichst gut zurechtzukommen. Das wird schwer genug.

[Quelle: Wikipedia, Bild steht unter der Creative Commons-Lizenz
Attribution ShareAlike 2.5, Urheber: Hannes Grobe]

Nach einer Studie steigt der Meeresspiegel schneller als bislang angenommen, im Jahr 2100 könnte er danach um 75 bis 190 Zentimeter höher stehen als heute. [2] Es hat den Anschein, als ob das Abschmelzen des Einspanzers in Grönland bereits begonnen hat, das zeigen spektakuläre Bilder. [3] "Der Eispanzer der Antarktis stellt den weltweit größten Süßwasserspeicher dar. Zur Zeit wird sein Volumen auf etwa 24,7 Mio. Kubikkilometer geschätzt; ein vollständiges Abschmelzen würde den Meeresspiegel um etwa 56,6 m erhöhen. Der zweitgrößte Speicher ist der Grönländische Eisschild. Sein Volumen wird auf 2,9 Mio. Kubikkilometer geschätzt; sein Abschmelzen würde den Meeresspiegel um etwa 7,3 m ansteigen lassen." [4] Es ist demzufolge wenig ratsam, in Bremen (3 m über NN), Bremerhaven (2 m über NN), Cuxhaven (2 m über NN), Pinneberg (2 m über NN) oder Emden (1 m über NN) noch Grundstücke zu kaufen. Langfristig sind auch Städte wie Kiel (5 m über NN) und Hamburg (6 m über NN) der Überflutungsgefahr ausgesetzt. [5]

Bleibt es beim jetzigen Trend, werden "Jahrhundertsommer" wie der von 2003 im Jahr 2040 zur Regel. Und im Jahr 2070 wird man sie sogar als kühl bewerten. [6] Die Alpengletscher sind in den vergangenen 150 Jahren dramatisch geschrumpft. "In den 1970er Jahren gab es in den Alpen etwa 5.150 Gletscher, die eine Fläche von 2.903 qkm bedeckten. (...) Eine Studie über die Entwicklung dieser Gletscher in den Alpen seit 1850 kommt zu dem Ergebnis, dass bis 1970 bereits 35 % der ursprünglich vorhandenen Gletscherfläche verschwunden war und dass sich dieser Schwund bis 2000 auf annähernd 50 % vergrößert hat. (…) Szenarien für das 21. Jahrhundert zeigen an, dass bei einer durchschnittlichen Erwärmung um 3 Grad Celsius bis ins Jahr 2100 die Gletscher der Alpen etwa 80 % der im Zeitraum zwischen 1971-1990 noch vorhandenen Fläche verloren haben könnten. Das entspräche nur noch einem Zehntel der Ausdehnung von 1850. Eine Erwärmung um 5 Grad Celsius könnte praktisch jeden alpinen Gletscher verschwinden lassen." [7] Unsere Flüsse dürften Ende des 21. Jahrhunderts in den Sommermonaten zu Bächen verkommen - mit den entsprechenden Folgen für die Landwirtschaft und die Trinkwasserversorgung.


Der McCarty-Gletscher in Alaska
[Quelle: Wikipedia, Bild steht unter der der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0-Lizenz,
July 7th, 1909 by Ulysses Sherman Grant, USGS photo library, public domain,
August 11, 2004 by Bruce F. Molnia, USGS, public domain,
Original uploader was IqRS at de.wikipedia]


Das Schlimmste sind wohl die positiven Rückkopplungseffekte, die die Erderwärmung einer menschlichen Einflussnahme entziehen. Taut etwa der Permafrostboden auf, gelangt durch Zerfallsprozesse zusätzliches Kohlendioxid in die Atmosphäre. Auch durch das Entweichen von Methan, ein Treibhausgas, dessen Klimawirksamkeit 25mal stärker ist als das von CO2, wird sich die Erdatmosphäre weiter aufheizen. Keine zu vernachlässigende Gefahr: "20-25 % der Landflächen der Erde sind Permafrostböden, wobei Grönland zu 99 %, Alaska zu 80 %, Russland zu 50 %, Kanada zu 40-50 % oder China bis zu 20 % aus Permafrostböden bestehen." [8] Die Erwärmung setzt mehr CO2 und Methan frei, was wiederum die Temperaturen in die Höhe treibt. Und so weiter und so fort. Die Menschheit könnte ihre CO2-Emissionen auf Null zurückfahren, die Temperaturen würden dennoch ansteigen, das macht positive Rückkopplungseffekte so gefährlich. Das Auftauen des Permafrostbodens ist keine Fiktion, sondern schon Realität.

Wie kommende Generationen, die die Hauptlast der Folgen tragen, über das Versagen der Delegationen in Kopenhagen denken, ist leicht zu erraten. Sie werden erstaunt und fassungslos sein, dass wir zwar alles über die Konsequenzen unseres eigenen Handelns wussten, uns aber trotzdem zu keiner wirksamen Gegenwehr aufraffen konnten. Gut, die "Nach-mir-die Sintflut"-Haltung sagt: Was interessiert mich, wie die Welt in 100 oder gar 1.000 Jahren aussieht, dann bin ich schon lange tot. Diese Kluft zwischen individuellem Handeln und den Zukunftsaussichten der Spezies Mensch überfordert viele, sie hat sich in Kopenhagen negativ bemerkbar gemacht.

Das Worst-Case-Szenario wäre gewiss das Abschmelzen der Antarktis. "Würde das gesamte Inlandeis der Antarktis und Grönlands schmelzen, stiege der Meeresspiegel um etwa 70 m an." [9] Was hieße das konkret? Nun, Berlin (34 m über NN) wäre in diesem Fall rund 30 Meter unter der Wasseroberfläche verborgen, auch Köln (53 m über NN) und Bonn (60 m über NN) lägen noch in der Nordsee, die weite Teile der Bundesrepublik überflutet hätte. Unsere Nachfahren müssten peu à peu Städte, Industrieanlagen, Häfen, Verkehrswege und landwirtschaftliche Flächen aufgeben. Und das in einem Ausmaß, das jede Zivilisation bis an die Grenze ihrer Belastungsfähigkeit treibt, sehr wahrscheinlich sogar darüber hinaus. Kopenhagen wird daher noch lange nachwirken - bloß anders und länger als von vielen erwartet.

Reden wir nicht drumherum: Die Menschheit hat versagt. Der Homo sapiens wird zwar nicht aussterben, aber seine Lebensumstände werden sich zwangsläufig radikal ändern. Etliche Milliarden werden sterben. Heute lebt die Hälfte der Menschheit in Meeresnähe, 2030 sollen zwei Drittel der dann auf mehr als 8 Mrd. Menschen geschätzten Weltbevölkerung in küstennahen Gebieten leben. Kämpfe um die noch verbleibenden nutzbaren Flächen sind damit unabwendbar und riesige Flüchtlingsströme praktisch vorprogrammiert, von den ökonomischen Auswirkungen ganz zu schweigen. Es ist vor diesem Hintergrund vollkommen unbegreiflich, warum sich die Verantwortlichen in Kopenhagen nicht einigen konnten. Ob der Schock von Kopenhagen im nächsten Jahr in Mexiko-City eine heilsame Wirkung entfaltet, ist fraglich. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

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[1] FAZ.Net vom 20.12.2009
[2] Zeit-Online vom 08.12.2009
[3] RP-Online vom 16.12.2009
[4] Max-Planck-Institut für Meteorologie
[5] Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2009, Seite 21, Ausgewählte Ortshöhenlagen, PDF-Datei mit 6,8 MB
[6] Süddeutsche vom 05.12.2007
[7] Wikipedia, Gletscherschmelze, Alpen
[8] Wikipedia, Permafrostboden, Verbreitung
[9] Max-Planck-Institut für Meteorologie