Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



04. Januar 2010, von Michael Schöfer
Es steht geschrieben


Es steht geschrieben: "Und Gott der HERR machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. (…) Und Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe, die er vom Menschen nahm, und brachte sie zu ihm." [1]

Rührend, nicht wahr? Weniger rührend fand das Ganze ein gewisser Charles Darwin, den die Kirche, wäre es ihr erlaubt gewesen, zweifellos liebend gerne auf den Scheiterhaufen geschickt hätte. Sein Buch "The Origin of Species" (Die Entstehung der Arten) stand nämlich in krassem Widerspruch zu den kirchlichen Dogmen. Steht nicht geschrieben, der Mensch sei aus einem Erdenkloß erschaffen? Dann muss es wohl so sein! Und bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde die Diskriminierung von Frauen mit Verweis auf die Bibel gerechtfertigt. "Es steht geschrieben", hieß es diesbezüglich.

"Es steht geschrieben", dachte bestimmt auch Osama bin Laden, als er seine Piloten in die Twin Towers des World Trade Centers schickte. "Diejenigen, die nicht an Unsere Zeichen glauben, die werden Wir im Feuer brennen lassen: Sooft ihre Haut verbrannt ist, geben Wir ihnen eine andere Haut, damit sie die Strafe kosten. Wahrlich, Allah ist Allmächtig, Allweise." [2] Ohne Zweifel: Es steht geschrieben.

Aber ist das alles auch wirklich wahr? Ist der Mensch tatsächlich aus Lehm entstanden oder hat er sich im Laufe von Jahrmilliarden durch natürliche Selektion aus einfacheren Organismen entwickelt? Letzteres ist inzwischen Konsens der Wissenschaft. Ist es gerechtfertigt, zahlreiche Menschen zu ermorden, bloß weil in einer angeblich heiligen Textsammlung entsprechende Stellen zu finden sind? Selbstverständlich nicht, solchen Auffassungen muss man entschieden widersprechen. (Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies gilt wohlgemerkt für alle Religionen.) Zirkelschlüsse nach dem Motto "Die Bibel hat recht, das steht doch in der Bibel" sind absolut hirnrissig.

Dennoch mutet uns die FDP genau das zu: Wir sollen an die Quadratur des Kreises (gleichzeitig Steuersenkungen, Einhaltung der Schuldenbremse, mehr Netto vom Brutto für Arbeitnehmer) nicht nur glauben, sondern bei diesem Experiment sogar mitmachen, und zwar weil es im Koalitionsvertrag so geschrieben steht. Für zusätzliche Steuersenkungen in Höhe von 24 Mrd. Euro sei nicht die Steuerschätzung maßgeblich, sondern der Koalitionsvertrag, erläuterte FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger dem erstaunten Publikum. [3] Und "FDP-Chef Westerwelle pocht trotz der Milliardenlöcher im Haushalt vehement auf Entlastungen im kommenden Jahr. Die sind im Koalitionsvertrag festgeschrieben." [4]

Merke: Ob die Quadratur des Kreises entgegen dem Sachverstand fast sämtlicher Ökonomen realisierbar ist, halten die Damen und Herren der FDP offenkundig für vollkommen nebensächlich. Entscheidend ist, dass es im Koalitionsvertrag so geschrieben steht. Und dann muss es auch gemacht werden. (Fallen Ihnen Ähnlichkeiten auf? Ja? Das ist gewollt.) Damit liegt die FDP geistig auf einer Linie mit den Kreationisten, die die Evolution leugnen, weil die Erschaffung des Universums im Alten Testament eben anders beschrieben ist. Und die Bibel hat, siehe oben, immer recht. Das steht schon... Wo? Ja, natürlich in der Bibel. Ich sagte ja bereits - absolut hinrrissig.

Aber, liebe Wählerinnen und Wähler, Ihr habt es am 27. September 2009 so gewollt. Jetzt müsst Ihr mit dem, was Ihr gewählt habt, mindestens noch weitere 93 Monate leben. Ob Ihr wollt oder nicht. Das steht nämlich ebenfalls geschrieben - im Grundgesetz: "Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt." (Artikel 39 Abs. 1 Satz 1) Und im Gegensatz zum Koalitionsvertrag muss man sich daran auch halten.

----------

[1] Martin Luther, Die Bibel, 1. Buch Mose, Kapitel 2
[2] Koran, Sure 4:56
[3] Reuters vom 04.01.2010
[4] Westfälische Nachrichten vom 04.01.2010