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05. Januar 2010, von Michael Schöfer
Kneif mich mal...


...ich kann es sonst gar nicht glauben. Da beschließt der Bund einen - durchaus begrüßenswerten - Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, trocknet aber gleichzeitig durch seine Steuerpolitik die Einnahmebasis der Kommunen aus. Wer soll die Garantie auf den Kita-Platz bezahlen, viele Gemeinden stehen vor dem Bankrott? Großes Achselzucken in Berlin. Wir (die Regierung) haben entschieden, und ihr (die Kommunen) müsst bezahlen. Woher ihr (die Kommunen) dafür das Geld nehmt, ist uns (der Regierung) egal. So solide ist mittlerweile deutsche Finanzpolitik geworden.

Ökonomisch betrachtet spielt die Musik für viele längst im Osten. Manche befürchten sogar, dass der "Alte Kontinent" bald den Anschluss verliert. "Während wir in Europa über Elektromobilität diskutieren und Studien anfertigen, legen die Asiaten los. Natürlich erscheinen uns ihre Solarkollektoren primitiv, doch sie sind so einfach und robust, wie es der Markt verlangt", sagt Hans-Jörg Bullinger, der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft. [1] Zur Schwarzmalerei gibt es dennoch keinen Grund, meines Erachtens werden offene (d.h. demokratische) Gesellschaften dank ihrer Flexibilität langfristig die Nase vorn behalten.

Dass wir mit umweltfreundlicher Technik nicht nur der Ökosphäre nutzen, sondern auch unserer Wirtschaft, wird nicht erst seit gestern diskutiert, darauf haben die Grünen schließlich schon vor etlichen Jahren hingewiesen. "Ökologie schafft Arbeit", hieß das seinerzeit. Die CDU hat jedoch in dieser Beziehung mindestens bis Ende 2009 geschlummert - und bis dahin heftig gegen die Ökosteuer und den Atomausstieg polemisiert.

Doch es geschehen noch Zeichen und Wunder: Bundesumweltminister Norbert Röttgen ist neuerdings für einseitige Vorleistungen beim Klimaschutz. Und zwar deshalb, weil Klimaschutz, das sei ihm "jetzt erst (!) richtig klar geworden, insbesondere auch die Modernisierung von Volkswirtschaften" beinhalte. "Jetzt zu investieren, ist kluge, strategische Wirtschaftspolitik. Andere konservieren mit Beihilfen ihre veralteten Strukturen. Wir investieren in neue", verkündet der CDU-Politiker. [2] Na, wer sagt's denn, geht doch. Bravo, Herr Röttgen, willkommen im 21. Jahrhundert.

Um nicht missverstanden zu werden: Es ist gut, wenn man dazulernt. Aber warum so spät? Kein Wunder, wenn wir in puncto Innovation zu kämpfen haben, bei uns geben die Betonköpfe viel zu lange die Richtung vor. Jetzt, nach 20 Jahren, ist die CDU - zumindest verbal - dort angekommen, wo die Grünen damals längst gewesen sind. Aber in anderen Bereichen, Beispiel Finanzpolitik (siehe oben), gibt es bei den Regierenden nach wie vor große Defizite. Eigentlich müsste man nicht mich kneifen, sondern Angela Merkel und Guido Westerwelle. Die versuchen nämlich, uns mit ihrem "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" und den geplanten Steuersenkungen in Höhe von 24 Mrd. Euro ein X für ein U vorzumachen. Aufwachen Angela, aufwachen Guido! Ihr fahrt den Karren an die Wand.

In Island wehrt sich das Volk dagegen, für die von den Bankern verursachte Finanzkrise die Zeche zu zahlen. [3] Und was macht das deutsche Volk? Es schläft. Tief und fest. Gibt es wenigstens Hoffnung? Ach, vergessen Sie's, so viele Kneifer gibt es gar nicht, dass hierzulande die Wähler endlich aufwachen. Ein bisschen Pessimismus ist also unumgänglich, sonst wird man bloß enttäuscht.

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[1] Süddeutsche vom 05.01.2010
[2] Süddeutsche vom 20.11.2009
[3] Zeit-Online vom 03.01.2010