Home
| Archiv | Leserbriefe
| Impressum 06. Januar 2010, von Michael Schöfer Der eingebildete Kranke "In Deutschland fehlen mehr als 3600 Ärzte", berichtet Die Welt. [1] Deutschland drohe ein Ärztemangel, lesen wir dort. "Nach einer neuen Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) fehlen derzeit bundesweit 3620 niedergelassene Ärzte. (…) Tausende niedergelassene Ärzte stehen aber vor dem Ruhestand. Und auch viele Kliniken suchen händeringend nach Medizinern. Vor allem Hausärzte auf dem Land finden keine Nachfolger, während es an Fachärzten in Ballungsräumen kaum mangelt." Das Problem liege an der räumlichen Verteilung der Ärzte. Der CSU-Politiker Wolfgang Zöller (MdB), seit November 2009 ordentliches Mitglied im Ausschuss für Gesundheit, fordert deshalb, die "geltenden Budget-Grenzen bei der Bezahlung der Ärzte" abzuschaffen. Er meint damit die Honorare. Es geht also mal wieder - wie immer - ums liebe Geld. Wer die Zeche bezahlen soll, ist klar: die Versicherten. Aus der bereits ausgepressten Zitrone soll auch noch der letzte Euro herausgepresst werden. Zu Gunsten der Ärzte, versteht sich. Zunächst: Deutschland hat keinen Ärztemangel, denn die Zahl der berufstätigen Ärzte hat seit 1970 um 140 Prozent (!) zugenommen. Damals, zu Beginn der sozialliberalen Koalition, kamen 857 Einwohner auf einen praktizierenden Arzt, 2008 waren es bloß noch 257 Einwohner. [2] Von einer katastrophalen Gesundheitsversorgung in der Ära Willy Brandt ist dennoch nichts überliefert. Wer behauptet, der Bundesrepublik fehlen mehr als 3.600 Ärzte, läuft Gefahr, sich angesichts der Größenordnungen - die Zahl der Ärzte stieg seit 1970 immerhin von 133.011 auf 319.697 - lächerlich zu machen. Die Dramatisierung soll mehr Geld in die Kassen der Ärzte spülen, das ist ihr einziger Zweck. Wenn auf dem Land tatsächlich ein Ärztemangel droht, dann ist das keine Frage der Ausweitung des Gesamtbudgets, sondern eine Frage der Verteilung innerhalb der bestehenden Budgetgrenzen. Doch dafür sind die Kassenärztlichen Vereinigungen zuständig, also die Ärzte selbst, denn die Kassenärztlichen Vereinigungen sind Einrichtungen der ärztlichen Selbstverwaltung. Es verwundert daher kaum, wenn von dieser Seite ausschließlich nach höheren Honoraren gerufen wird. Mehr externes Geld einfordern ist offensichtlich einfacher, als für einen gerechten Ausgleich innerhalb der Ärzteschaft zu sorgen.
Dabei geht es den Ärzten gar nicht schlecht. "Entgegen der Klagen vieler Funktionäre hat es in den vergangenen Jahren keine Honorareinbußen bei den niedergelassenen Ärzten gegeben. Nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes haben die Mediziner auch in den Jahren vor der Honorarreform deutliche Zuwächse verzeichnet. Laut Studie betrug 2007 der durchschnittliche Reinertrag eines Mediziners 142.000 Euro im Jahr. Das ist im Vergleich zur letzten Erhebung aus dem Jahr 2002 ein Plus von 12,7 Prozent.", schrieb die Süddeutsche im vorigen Jahr [3]. Damit seien die Honorare der Mediziner stärker angestiegen als die Bruttoverdienste der Arbeitnehmer. Und nach der seit Anfang 2009 in Kraft getretenen Gesundheitsreform haben die Ärzte ihre Honorare abermals kräftig aufgestockt. Allen Unkenrufen zum Trotz - erinnern Sie sich noch an den Ärztestreik? - hat es im ersten Quartal 2009 zu einem Plus von 7,8 Prozent gereicht. [4] [Quelle: Statistisches Bundesamt, Kostenstruktur bei Arzt- und Zahnarztpraxen, Praxen von psychologischen Psychotherapeuten sowie Tierarztpraxen 2007, PDF-Datei mit 1,2 MB]
Aus Gründen der Fairness sollte man allerdings auf Folgendes hinweisen: "Der Reinertrag stellt nicht den betriebswirtschaftlichen Gewinn der Praxis dar, da u. a. die Aufwendungen für Praxisübernahme (Ausgaben, die auf das Kalenderjahr 2007 entfallen und/oder Abschreibungen für das Kalenderjahr 2007 auf einen käuflich erworbenen Praxiswert) und Aufwendungen privater Natur für die Alters-, Invaliditäts-, Hinterbliebenen- und Krankenversicherung der Praxisinhaber und der Familienangehörigen, auch Beiträge zu Versorgungseinrichtungen der Ärzte für das Jahr 2007 nicht berücksichtigt werden." [5] Nehmen wir einmal an, der betriebswirtschaftliche Gewinn einer Praxis beträgt im Durchschnitt 100.000 Euro, dann ist das immer noch mehr als das Fünfeinhalbfache eines durchschnittlichen Arbeitnehmerlohns (jährliche Nettolohn- und -gehaltsumme 2007 = 17.689 Euro). [6] Und die Aussicht auf einen Nettoertrag von 100.000 Euro lässt es offenbar nach wie vor attraktiv erscheinen, den Arztberuf zu ergreifen - auch wenn uns die Ärzteschaft etwas anderes einreden möchte. Die Gesamtzahl der niedergelassenen Ärzte steigt nämlich weiter an. Merke: Die Aussagen der Lobbyisten müssen nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen, manchmal sind sie nur ein mehr oder minder geschicktes Ablenkungsmanöver. Große Ungleichgewichte bestehen zwischen den Einkünften der ärztlichen Fachrichtungen, so verdienten 2007 Radiologen mit einem durchschnittlichen Reinertrag von 264.000 Euro am besten, Allgemeinmediziner (116.000 Euro) hingegen spürbar weniger. Das heißt jedoch nicht, dass Allgemeinmediziner arm wären, hier wird lediglich auf hohem Niveau gejammert. Das Klagelied hätte dem Hypochonder in Molieres Theaterstück "Der eingebildete Kranke" alle Ehre gemacht. Im Zuge der Gesundheitsreform kam es darüber hinaus zu Verschiebungen bei der Zuteilung des Budgets auf einzelne Bundesländer: "Während die Kassenärztlichen Vereinigungen in den neuen Bundesländern von 2007 auf 2009 alle Honorargewinne im zweistelligen Prozentsatz einfuhren (von 16,1 bis 24,6 Prozent, Durchschnitt 19,7 Prozent), fielen die Steigerungen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen in den alten Bundesländern deutlich geringer aus (von 2,5 bis 16,5 Prozent, Durchschnitt 8,3 Prozent)." [7] Es sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich erwähnt: Wer den klassischen Landarzt fördern will, soll das über eine Umverteilung innerhalb der Ärzteschaft durchführen, nicht über eine Ausweitung der Einkünfte aller Ärzte. Es existiert mithin ein innerärztliches Verteilungsproblem, kein Ärztemangel. Fazit: Alles in allem geht es den Ärzten, im Gegensatz zu vielen abhängig Beschäftigten, recht gut. Die Klagen, es gebe in Deutschland zu wenig Ärzte, sind nicht nachvollziehbar. Wäre es so unattraktiv, Arzt zu werden, wie die Kassenärztlichen Bundesvereinigung suggeriert, hätte es sicherlich keinen derartigen Ärztezuwachs gegeben. Das heißt nicht, dass es keine Probleme gäbe, aber das sind Detailfragen. Die Forderung, die Budget-Grenzen bei der Bezahlung der Ärzte abzuschaffen, ist jedenfalls so durchschaubar wie inakzeptabel. ---------- [1] Die Welt vom 04.01.2010 [2] Bundesärztekammer, Entwicklung der Arztzahlen nach ärztlichen Tätigkeitsbereichen seit 1960, PDF-Datei mit 26 kb [3] Süddeutsche vom 13.08.2009 [4] Handelsblatt vom 27.07.2009 [5] Statistisches Bundesamt [6] Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Statistisches Taschenbuch 2008, Arbeits- und Sozialstatistik, Tabelle 1.14, Excel-Datei mit 80 kb [7] BKK Wirtschaft & Finanzen |