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| Leserbriefe | Impressum 26. Januar 2010, von Michael Schöfer Netanjahus einfache Formel Du darfst alles sein: dumm, gierig, fett, geizig oder arrogant - nur eines ist, wenigstens seit 1945, verpönt: Du darfst nicht antisemitisch sein. Verständlich, nach den Leichenbergen des "Tausendjährigen Reiches". Doch der Antisemitismus ist keineswegs ausgestorben. Im Gegenteil, er breitet sich sogar weiter aus. Das behauptet zumindest die Jewish Agency in Jerusalem. Es gehe eine "schmutzige Welle von Antisemitismus durch die westliche Welt", schreibt sie in ihrem aktuellen Jahresbericht. 2009 habe es mehr antisemitische Vorfälle gegeben als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. "In Europa wurden allein in den ersten drei Monaten rund um den Gaza-Krieg mehr Fälle gezählt als im ganzen Jahr zuvor." [1] "Die extremistische Propaganda gegen Israel nach der Operation 'Gegossenes Blei' hat den Zusammenschluss zwischen radikalen Islamisten und klassischen Antisemiten ermöglicht, der diese Welle des Antisemitismus in der Welt provoziert hat." [2] Israels Premierminister Benjamin Netanjahu macht neben dem Gaza-Krieg auch den Bericht der UN-Untersuchungskommission, der unter der Federführung des südafrikanischen Richters Richard Goldstone verfasst wurde, für den wachsenden Antisemitismus verantwortlich. Im Goldstone-Bericht werden der israelischen Armee und bewaffneten Palästinensergruppen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Israel reagierte empört auf die Veröffentlichung der Vereinten Nationen und bestreitet seitdem hartnäckig, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Netanjahu vermischt hier bewusst zwei unterschiedliche Dinge, um die Kritiker seines Landes in Misskredit zu bringen. Er suggeriert, wer Israels Verhalten kritisch hinterfragt, ist antisemitisch. Netanjahu schwingt also die häufig benutzte Antisemitismuskeule. Dass dies schon in Bezug auf Richard Goldstone nicht stimmen kann, schließlich ist Goldstone Jude, stört ihn nicht weiter. Kritik an Israel ist Antisemitismus, lautet Netanjahus einfache Formel. Natürlich lassen jetzt einige Menschen ihrem Judenhass freien Lauf, das ist unbestreitbar. Doch sämtliche Kritiker Israels undifferenziert als Antisemiten abzustempeln, ist absolut ungerechtfertigt und intellektuell unredlich. Wenn man fordert, dass sich auch Israel ans Völkerrecht zu halten habe, wird man dadurch nicht automatisch zum Judenhasser. Vielleicht in den Augen Netanjahus, aber nicht in Wirklichkeit. Der israelische Regierungschef will damit bloß ablenken. Ablenken vom völkerrechtswidrigen Verhalten seines Landes. "Der dreiwöchige Gaza-Krieg war das schlimmste Blutvergiessen in Nahost seit dem Sechstagekrieg von 1967: Etwa 1400 Palästinenser wurden getötet und rund 5500 weitere verletzt, auf israelischer Seite waren 13 Tote zu beklagen." [3] Israel will nach Angaben eines Regierungsmitglieds trotz allem keine offizielle Untersuchung des Gaza-Kriegs anordnen. [4] Man verschließt also konsequent die Augen. Motto: Was nicht sein darf, kann auch nicht sein. So torpediert Israel erfolgreich jede Aussicht auf Frieden. "Wir bleiben hier, wir bauen hier, dieser Ort wird für immer ein untrennbarer Teil des Staates Israel sein", bekräftigt Netanjahu mit Blick aufs Westjordanland und stößt damit US-Präsident Barack Obama gehörig vor den Kopf. [5] Dabei wird es ohne den Rückzug Israels aus den seit 1967 besetzten Gebieten keinen Frieden geben, doch das ist offenbar einkalkuliert. Israel mag Frieden anstreben, allerdings zu seinen eigenen Bedingungen. Schmerzhafte Konzessionen sind dabei nicht vorgesehen. [6] "Der jüdische Staat ist besessen vom Misstrauen - gegen sich selbst, seine Nachbarn und die Welt um sich herum. Der Holocaust wird als ultimatives Trauma vereinnahmt, um israelisches Unrecht zu legitimieren." Dies schreibt kein glühender Antisemit, sondern der jüdische Autor Avraham Burg in seinem Buch "Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss". Burg, der heftigen Anfeindungen (Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter, jüdischer Selbsthasser etc.) ausgesetzt ist, kritisiert sein Land als militaristisch, fremdenfeindlich und anfällig für Extremismus. Der Antisemitismus kann in der Tat durch den Gaza-Krieg Israels angefacht worden sein, doch das ist keine Rechtfertigung für eigene Untaten und kein Freibrief für die Zukunft. Menschenrechte sind unteilbar, diese Aussage gilt auch in Bezug auf die Palästinenser. Und sie dürfen niemandem entzogen werden, immerhin gehört dieses Prinzip zu den fundamentalen Grundsätzen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Artikel 2 sagt unmissverständlich: "Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist." Netanjahus Äußerung ist bezeichnend dafür, wie weit Israel sich bereits vom Völkerrecht entfernt hat. Und sie ist charakteristisch für die geradezu paradoxe Situation, dass man zum Antisemiten gestempelt wird, wenn man an den Prinzipien des Völkerrechts festhält. Langfristig schadet das Ganze aber bloß Israel. ------------ [1] Süddeutsche vom 26.01.2010 [2] AFP vom 24.01.2010 [3] news.ch vom 25.12.2009 [4] Der Standard vom 26.01.2010 [5] Der Standard vom 24.01.2010 [6] siehe Israel/Palästina: Der endlose Konflikt vom 31.07.2004 |