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25. Februar 2010, von Michael Schöfer
Kaffeehauskultur


Die Welt ist irrational und ungerecht, genau das vermiest uns das Leben. Was ist passiert? Ein gewisser Christos saß jahrelang im Cafe Kubitschek und verspeiste ein Tortenstück nach dem anderen. "Hast Du auch Geld", fragte der Kellner zwischendurch immer wieder. Christos antwortete stets mit einem genuschelten "Ja", sein treuherziger Augenaufschlag wurde als Bestätigung des Gesagten interpretiert. Der Kellner gab sich damit zufrieden. Die Zweifel an der Korrektheit von Christos' Aussage sollten dennoch nie komplett verschwinden. Sei's drum, er bekam wenigstens was er wollte: zahlreiche leckere Torten. "Noch ein Stück, der Herr?" Christos stimmte hocherfreut zu: "Aber bitte mit Sahne." Der Kellner hielt zur Sicherheit jede Bestellung akkurat in seinem Notizblock fest.

Die kalorienreiche Kost hatte deutlich wahrnehmbare Auswirkungen, Christos wurde ständig dicker. Und als der Kellner eines schönen Abends endlich Kohle sehen wollte, erntete er bloß ein hilfloses Achselzucken. "Kein Geld", bedauerte Christos, "ich bin vollkommen pleite". Da erhob sich im Cafe Kubitschek ein großes Geschrei, das alle übrigen Gäste enorm irritierte. "Du Betrüger", warf ihm der Kellner lautstark an den Kopf und wedelte aufgeregt mit seinem vollgeschriebenen Notizblock herum. "Selbst schuld", entgegnete Christos dreist, "du hättest wissen müssen, wie es um meine Finanzen steht." In einer anderen Ecke des Cafes, dort wo für gewöhnlich die Schachspieler herumsitzen, wurden bereits Wetten über den Ausgang des Boxkampfes angenommen, den man eine Zeitlang als unvermeidbar ansah.

Wer ist nun wirklich schuld an der fatalen Lage? Christos, der sich ohne an die Rechnung zu denken den Bauch vollschlug? Oder der Kellner, der den Zechpreller immer wieder zur Nahrungsaufnahme ermunterte und alle Anzeichen von Christos' mangelnder Zahlungsfähigkeit ignorierte?

Die Sache landete schließlich vor Gericht. Dort verurteilte man den Tortenliebhaber zu einer strengen Brigitte-Diät: Jedes Jahr muss er mindestens um vier Prozent abspecken, solange bis das Normalgewicht erreicht sei, lautete das Urteil. Mit anderen Worten: Fortan ist jeglicher Genuss verboten, es gibt auf absehbare Zeit hinaus nur noch Wasser und Brot. Die Richter ließen Christos keine Wahl, denn sollte er nicht spuren, darf er das Cafe Kubitschek nie wieder betreten, verfügten sie.

Christos hat das Ganze allerdings im Nachgang ein bisschen verkompliziert. Joannis, sein gertenschlanker Bruder, soll sich nämlich in Zukunft ebenfalls nur noch von Wasser und Brot ernähren. Fordert jedenfalls Christos, dabei hat er Joannis in all den Jahren nicht ein einziges Stück Torte abgegeben. Sie vermuten richtig: Christos war von jeher ein furchtbarer Egoist. Joannis stürmt angesichts dieser unverschämten Forderung erzürnt auf die Straße und droht damit, dem Cafe Kubitschek die Schaufensterscheibe einzuschlagen, was natürlich umgehend die Knüppel schwingende Kaffeehauspolizei auf den Plan ruft. "Der Kubitschek ist an der Misere absolut unschuldig", schreien die Tortenhersteller, die um ihren lukrativsten Absatzmarkt fürchten. Die Glasermeister wiederum wittern steigende Umsätze und reiben sich schon die Hände. Kurzum, die Situation ist momentan total verfahren, die Vereinigung der Kaffeehausbesitzer im fernen Brüssel ist deshalb völlig ratlos.

Das eigentlich Schlimme an der Geschichte ist jedoch, dass Christos, zumindest wenn man böswilligen Gerüchten Glauben schenkt, vor kurzem ungeachtet aller Geschehnisse im Cafe Hawelka gesehen worden sein soll, angeblich mampft er dort wie gewohnt Sahnetorte (ob er sie am Ende bezahlen kann, ist wie zuvor unklar). Demgegenüber muss Joannis wahrscheinlich noch auf Jahre hinaus fasten, um Christos' Schulden zu begleichen. Fazit: Die Kaffeehauskultur ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Es geht dort zu wie in der übrigen Welt auch: irrational und ungerecht.