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20. März 2010, von Michael Schöfer
Wer ohne Sünde ist...


Wissen Sie, was Außerirdische, sofern es sie im Nahbereich unseres Sonnensystems überhaupt geben sollte, als erstes von uns Menschen sehen? Sie werden es kaum glauben: das Fernsehprogramm. Die elektromagnetischen Wellen der Fernsehsender breiten sich ja auch ins All aus. Und das seit mindestens 60 Jahren. Mit Lichtgeschwindigkeit. Können Sie sich also vorstellen, welchen Eindruck Außerirdische von uns gewinnen müssen? Ihr Resümee lautet bestimmt: Die Erdlinge sind total gaga. Viel brutale Gewalt und jede Menge abgrundtief dummes Zeug. Vielleicht haben sie uns noch nie besucht, weil sie den Homo sapiens wegen seines miserablen Fernsehprogramms für eine intellektuell absolut uninteressante Spezies halten. Zu viel Aufwand für einen Besuch, und zu wenig Nutzen. Unter uns, ganz unrecht hätten sie damit nicht.

Besonders peinlich sind Fernsehsendungen, wenn es um Sex geht. Vor allem in den USA. Nein, ich meine jetzt nicht die sexuellen Übergriffe von zölibatär lebenden Priestern an ihnen anvertrauten Kindern, sondern den Sex zwischen Erwachsenen. Einvernehmlichen Sex unter mündigen Bürgern. Und wenn die Menschheit gaga ist, sind die Amerikaner in dieser Beziehung zweifellos obergaga.

Erinnern Sie sich noch an die Lewinsky-Affäre? Monica Lewinsky, eine attraktive Praktikantin im Weißen Haus, blies US-Präsident Bill Clinton ab und an den Schwanz. Ob aus Patriotismus, echter Zuneigung oder den erhofften besseren Karriereaussichten sei dahingestellt. Billy Boy war bekanntlich verheiratet und stritt deshalb jede sexuelle Beziehung zu Lewinsky ab, was prompt zu einem Amtsenthebungsverfahren führte. Dabei hat er nur das gemacht, was sich insgeheim fast alle Männer wünschen. Nicht zu fassen: Der US-Kongress beschäftigte sich tatsächlich intensiv mit Sperma-Flecken auf Lewinskys Kleid. Arthur Miller, Autor des Bühnenstücks "Hexenjagd", hatte daran gewiss seine Freude.

Hätte Clinton gesagt: "Ja, ich habe eine außereheliche Affäre mit Frau Lewinsky, das ist jedoch eine reine Privatangelegenheit und geht die Öffentlichkeit nichts an", wäre die Sache unter Umständen nach ein paar Tagen erledigt gewesen. Selbst im puritanischen Amerika. Doch so zog sich das Ganze noch monatelang hin. Vielleicht hat er subjektiv sogar die Wahrheit gesagt: Sich einen blasen zu lassen war in seinen Augen wahrscheinlich ebenso wenig eine sexuelle Beziehung, wie Marihuana rauchen ohne zu inhalieren einen Drogenmissbrauch darstellte. Das wollte uns der gute Billy Boy nämlich ebenfalls weismachen: "Als ich in England war, habe ich ein oder zwei Mal mit Marihuana experimentiert, und ich mochte es nicht. Ich habe nicht inhaliert und es nie mehr probiert." (New York Times, 29. März 1992) [1] "Sex, Drugs and Rock & Roll" waren in den USA schon von jeher die allerschlimmsten Verfehlungen.

Zugegeben, inzwischen gingen ein paar Jährchen ins Land, die Amerikaner sind allerdings seitdem nicht weniger paranoid geworden. Im Gegenteil: Golf-Star Tiger Woods beispielsweise soll seine Frau mit insgesamt 12 Geliebten betrogen haben (die korrekte Anzahl weiß er vermutlich selbst nicht genau). Aber anstatt, siehe oben, zu sagen: "Ja, ich habe meine Frau betrogen, das ist jedoch eine reine Privatangelegenheit und geht die Öffentlichkeit nichts an", entschuldigte sich Woods auf einer eigens dazu einberufenen Presskonferenz. "Es tut mir so leid, ich will mich bei allen entschuldigen", "Ich war untreu, ich hatte Affären, ich war die einzige Person, die hier die Schuld trägt." [2] Es flossen sogar Tränen. Na, wenn das nicht total gaga ist...

Jammerlappen! Ich an seiner Stelle hätte, zumal als Milliardär, der Öffentlichkeit den Stinkefinger gezeigt und wäre meiner Wege gegangen. Doch in den USA wird man für Seitensprünge buchstäblich an den Pranger gestellt, wenngleich zum Glück nicht gesteinigt (kommt aber womöglich noch). Für Politiker bedeuten Affären das Ende ihrer Karriere, sie können einpacken, sobald davon etwas an die Öffentlichkeit gelangt. Siehe zum Beispiel John Edwards oder Gary Hart.

Jetzt hat in den USA wieder jemand wegen eines Seitensprungs die Welt um Vergebung gebeten. Ein gewisser Jesse James, seines Zeichens Ehemann von Oscar-Preisträgerin Sandra Bullock, hat sich dafür entschuldigt, eine Affäre gehabt zu haben. Er gesteht, "alles Schlechte" zu verdienen. [3] Es würde mich nicht wundern, wenn nun auch er - wie so viele andere - seine angebliche "Sexsucht" in einer sündhaft teuren Promi-Klinik behandeln ließe. Fazit: Es wird immer peinlicher. Außerdem: Jesse who?

Ich finde, wenn Erwachsene vereinbaren, sich treu zu bleiben, ist das vollkommen in Ordnung. Wenn Erwachsene - warum auch immer - beschließen, mit mehreren Partnern zu vögeln, ist das ebenfalls okay. Das waren noch Zeiten: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre wurden einst für ihre offene Beziehung bewundert. Mein Gott, wo leben wir denn, es gibt in dieser Hinsicht keine allgemeingültige Moral. Mit der Treue ist es wie mit Duplo: Für die einen ist sie langweilig, für die anderen ist sie einfach Liebe. Jeder soll eben das machen, was er mag und was er vor seinem eigenen Gewissen verantworten kann. Die Betonung liegt hier auf "seinem eigenen". Niemand ist diesbezüglich anderen Menschen Rechenschaft schuldig. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht hier, wohlgemerkt, lediglich um einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen.

Wem das nicht behagt, ist selbst schuld. Mit anderen Worten: Die Moralapostel und Heuchler sollen sich gefälligst davonmachen. Ohnehin gilt der Spruch: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Und was ist mit den Außerirdischen? Nun, die warten - wie wir - auf ein besseres Fernsehprogramm. Na, das kann dauern.

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[1] Wikiquote, Bill Clinton
[2] BILD vom 19.02.2010
[3] tt.com vom 19.03.2010