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28. März 2010, von Michael Schöfer
Der Programmentwurf der Linken


Die Linke, der Zusammenschluss von PDS und WASG, hat vor kurzem endlich ihren ersten Parteiprogrammentwurf vorgelegt. Erwartungsgemäß unterscheidet er sich stark von allen anderen in den Parlamenten vertretenen Parteien. Die Linke spricht sich für den "demokratischen Sozialismus" aus und will "die Vorherrschaft des Kapitals über die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Natur" zurückdrängen. [1]

Sie blickt dabei zunächst selbstkritisch zurück: "Der erste große Versuch im 20. Jahrhundert, eine nichtkapitalistische Ordnung aufzubauen, ist an mangelnder Demokratie, Überzentralisation und ökonomischer Ineffizienz gescheitert. Unter Pervertierung der sozialistischen Idee wurden Verbrechen begangen. Dies verpflichtet uns, unser Verständnis von Sozialismus neu zu bestimmen." [2] "Zu den Erfahrungen der Menschen im Osten Deutschlands zählen die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Frauen, die weitgehende Überwindung von Armut, ein umfassendes soziales Sicherungssystem, ein hohes Maß an sozialer Chancengleichheit im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Kultur. Auf der anderen Seite standen Erfahrungen staatlicher Willkür und eingeschränkter Freiheiten. Wichtige Reformansätze wurden nach kurzer Zeit immer wieder autoritär abgewürgt. Die Demokratie blieb auf der Strecke, und eine ökologische Orientierung hatte keine Chance. Die Zentralisation der ökonomischen Entscheidungen und die bürokratisierte Form der Planung und Leitung der Volkswirtschaft sowie die weitgehende Einschränkung betrieblicher Selbstständigkeit führten langfristig zu einem Zurückbleiben der Innovations- und Leistungsfähigkeit. Damit sank die Anziehungskraft des ökonomischen Modells der DDR. Es ist deutlich geworden: Ein Sozialismusversuch, der nicht von der großen Mehrheit des Volkes demokratisch gestaltet, sondern von einer Staats- und Parteiführung autoritär gesteuert wird, muss früher oder später scheitern. Ohne Demokratie kein Sozialismus." [3]

Der Knackpunkt des Programmentwurfs sind zweifelsohne die Eigentumsverhältnisse. "Eine entscheidende Frage gesellschaftlicher Veränderung ist und bleibt die Eigentumsfrage." Die Linke will deshalb nicht nur "die Finanzinstitutionen und die Energiewirtschaft" verstaatlichen, sondern auch "strukturbestimmende Großbetriebe der Wirtschaft (...) in demokratische gesellschaftliche Eigentumsformen überführen und kapitalistisches Eigentum überwinden". Im Gegensatz dazu will die Linke "kleine und mittlere Unternehmen sowie Selbstständige" fördern, deren hohes innovatives und kreatives Potenzial wird durchaus anerkannt. Allerdings: Erforderlich sind ihrer Ansicht nach "Rahmenbedingungen, die hohe soziale und ökologische Standards sichern und Konzentration von Einkommen und Vermögen verhindern."

Geht es nach dem Willen der Linken, besteht das Bankensystem künftig nur noch aus drei Säulen: Sparkassen, Genossenschaftsbanken und staatliche Großbanken. Privatbanken sind in diesem Konzept nicht mehr vorgesehen. Ebenfalls verstaatlicht werden soll die Energieversorgung, der öffentliche Nah- und Fernverkehr sowie die Telekommunikation. Wörtlich heißt es: "Netzgebundene Dienstleistungen und Einrichtungen der Daseinsvorsorge [müssen] in öffentlichem Eigentum bleiben oder in öffentliches Eigentum überführt werden und der demokratischen Kontrolle unterliegen." [4]

Nun zeigt der Blick in die Geschichte, dass der Staat per se weder alles richtig noch alles falsch macht. So war etwa die Energieversorgung in Deutschland lange Zeit in staatlicher Hand. Beispiel E.ON: Das Unternehmen ging im Jahr 2000 aus einer Fusion der VEBA mit der VIAG hervor. Die VEBA, gegründet am am 8. März 1929, war ursprünglich ein preußischer bzw. deutscher Energie-Staatskonzern. "Die VIAG wurde am 7. März 1923 in Berlin als Dachgesellschaft für bisher direkt gehaltene, industrielle Beteiligungen des Deutschen Reiches gegründet." [5] Beide wurden später nach und nach privatisiert, die VEBA ab 1965 und die VIAG ab 1986. Mittlerweile befinden sich 76,85 Prozent der Kapitalanteile von E.ON im Streubesitz, der Freistaat Bayern hält an E.ON nur noch einen Anteil von lediglich 1,9 Prozent (Stand: März 2009). [6] Warum sollte die Energieversorgung also nicht erneut in staatliche Obhut? Längst kaufen Stadtwerke ihre ehemals privatisieren Netze peu à peu zurück. Das im Zuge der Privatisierungswellen entstandene private Oligopol hatte nämlich zumindest für den Verbraucher verheerende Konsequenzen, denn der stöhnt über mangelnde Konkurrenz und das daraus resultierende hohe Preisniveau.

Im Gegensatz dazu hat sich die Privatisierung der staatlichen Telekommunikation als segensreich erwiesen. Die Zerschlagung der früheren Bundespost führte im Bereich der Telekommunikation zu sinkenden Preisen und brachte enorme Innovationsschübe. Warum die Linke hier trotzdem einen Schritt zurück in die Vergangenheit wagen will, ist offen gestanden völlig schleierhaft.

Andererseits ist auch die Privatisierung alles andere als ein Allheilmittel, das Debakel der britischen Eisenbahn ist hier zweifellos das Paradebeispiel. Der Privatsektor ist keineswegs immer hocheffizient, so wurde beispielsweise die jüngste Finanzkrise hauptsächlich von Privatbanken ausgelöst. Neben den staatlichen Landesbanken, die sich unzweifelhaft gehörig verspekulierten, waren nämlich in Deutschland die Hypo Real Estate und die Commerzbank seinerzeit überwiegend in Privatbesitz. Demgegenüber kamen die Genossenschaftsbanken und die Sparkassen weitgehend ungeschoren durch die Subprime-Krise. Privatisierung kann also, muss jedoch nicht die bessere Lösung sein. Es kommt eben - wie immer - darauf an. Die Macht der Privatbanken zu brechen ist legitim, denn das ist die Lehre aus der Finanzkrise.

Leider zeigen aktuelle Experimente der Verstaatlichung, unter anderem in Venezuela, vor allem die Risiken dieses Weges. Ob die Bevölkerung dort am Ende tatsächlich von der "Bolivarischen Revolution" profitiert, muss sich noch zeigen. Momentan bringt der Umbruch neben bedenklichen Entwicklungen in puncto Demokratie vor allem hohe Inflationsraten (2008: 30,9 Prozent, 2009: 25,1 Prozent), temporäre Stromabschaltungen und Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften. [7] Schuld ist natürlich - analog zu Kuba - stets die Opposition, das Ausland oder das Wetter, aber nie die Regierung. "In Lateinamerika hat die Erfahrung mit der kapitalistischen Barbarei bereits an der Schwelle des 21. Jahrhunderts zur Entstehung starker Gegenbewegungen geführt. Ihnen gilt unsere Solidarität", schreiben die Linken. Hierzulande werden die Wähler solche Negativbeispiele freilich zu Recht als höchst unattraktiv empfinden, damit kann die Linke in Deutschland kaum reüssieren. Etwas mehr kritische Distanz wäre angebrachter, schon allein wegen der Glaubwürdigkeit, mit naiver Verherrlichung und falscher Revolutionsromantik schadet sich die Linke nur selbst.

Die Linke ist sich der Gratwanderung, die sozialistische Experimente mit sich bringen, offenbar bewusst: "Eine Wirtschaft, die den Menschen und nicht dem Profit dient, hat vor allem folgende Funktionen zu erfüllen: Erstens soll sie die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger befriedigen und allen ein Leben in Wohlstand und sozialer Sicherheit gewährleisten, zweitens ökologisch nachhaltig wirken, drittens innovativ auf neue Herausforderungen reagieren und viertens sparsam die gesellschaftlichen Ressourcen einsetzen. Darüber hinaus muss sie so organisiert sein, dass alle direkt und indirekt in der Wirtschaft tätigen Menschen ihre Fähigkeiten frei entfalten und sich in ihrer Tätigkeit bilden und weiterbilden können." [8]

Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Wie soll die Wirtschaft konkret gesteuert werden? Wie sollen die Bürger respektive Arbeitnehmer konkret Einfluss ausüben? Wie will man Bürokratie, Innovationsfeindlichkeit und Machtmissbrauch konkret verhindern? "Den Belegschaften müssen starke Mitbestimmungsrechte als Korrektiv zu den Entscheidungen des Managements garantiert werden. Die Bürgerinnen und Bürger sollen wirksame Möglichkeiten der Partizipation an der Entwicklung der kommunalen Dienstleistungen erhalten", fordert die Linke. Aber wie das genau umgesetzt werden soll, darüber schweigt sich der Programmentwurf bedauerlicherweise aus. Das wollen die Menschen en détail wissen. Und zwar vorher, nicht hinterher, wenn es - wie schon so oft - schief gegangen ist. Doch vielleicht erwartet man hier von einem Grundsatzprogramm zu viel.

Der Programmentwurf [9] ist jedenfalls erfrischend anders, selbst wenn man seinen Inhalt teilweise ablehnt. Ein x-ter neoliberaler Aufguss wäre in der deutschen Parteienlandschaft vollkommen überflüssig gewesen, hiervon gibt es schon mehr als genug, in dieser Beziehung bietet die Linke wenigstens eine klare Alternative. Ihr Entwurf ist in gewissem Sinne sogar ehrlicher als die Grundsatzprogramme der etablierten Volksparteien, welche nur so vor Allgemeinplätzen strotzen. Die Linke sagt unverblümt, was sie will. Wollte sie sich bei der Wählerschaft anbiedern, hätte sie etwas anderes niedergeschrieben.

Doch Vorsicht: Auch die rot-grüne Koalition hatte 1998 gute Programme, enttäuschte die Wähler aber schnell durch ihre Regierungspraxis. Papier ist geduldig, es kommt daher allein auf die Umsetzung an. Unabhängig von den einzelnen Positionen des Programmentwurfs wird die Linke hier wohl am meisten zu kämpfen haben. Die Wählerinnen und Wähler werden nämlich nicht bloß gegenüber sozialistischen Experimenten äußerst zurückhaltend sein, sie werden aufgrund der Geschichte der Partei auch ziemlich misstrauisch reagieren. Denn nicht immer ist der, der die Demokratie ständig im Munde führt, auch wirklich demokratisch. Mit anderen Worten: Vorbehalte zu zerstreuen kann mitunter Generationen dauern. Die Linke wird daher einen langen Atem brauchen. Helfen könnte ihr diesbezüglich nur der Zusammenbruch des Kapitalismus. Noch ist die Finanzkrise nicht überwunden, weitere krisenhafte Zuspitzungen sind keineswegs ausgeschlossen. Kollabiert das kapitalistische System, erleben sozialistische Entwürfe möglicherweise eine Renaissance. Darauf wetten würde ich jedoch nicht.

Die Diskussion um das Grundsatzprogramm der Linken hat erst begonnen. Es wird spannend und interessant sein, diesen Prozess zu beobachten. Noch spannender ist bestimmt, wie viel davon dort, wo die Linke mitregiert, in die Regierungspraxis einfließt. Denn auch für sie gilt: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Der Spagat, den die Linke hierbei machen muss, wird gewiss weh tun - ihr selbst und ihren Wählern.

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[1] Programmentwurf der Linken, III. Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert
[2] III. Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert
[3] I. Woher wir kommen, wer wir sind
[4] Eigentumsfrage und Wirtschaftsdemokratie
[5] Wikipedia, VIAG, Gründung und Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg
[6] Wikipedia, E.ON, Anteilseigner
[7] Neue Zürcher Zeitung-Online vom 12.01.2010 oder ARD-Weltspiegel vom 21.03.2010, Venezuela: Mit Vollgas in die Kubanisierung
[8] Eigentumsfrage und Wirtschaftsdemokratie
[9] PDF-Datei mit 184 kb