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18. Mai 2010, von Michael Schöfer
Ich bin entsetzt


Man kann die Deutschen nicht alleine lassen. Als ich 2008 in Urlaub war, verkündete Angela Merkel gerade ihr 500 Mrd. Euro schweres Rettungspaket für das deutsche Finanzsystem. Zur Hilfe gebe es keine Alternative, behauptete die Kanzlerin damals. Jetzt, ich weilte zur Erholung erneut in der Ferne, beschließt sie zusammen mit anderen EU-Staaten und dem Internationalen Währungsfonds ein 750 Mrd. Euro teures Rettungspaket für den Euro (in Wahrheit wird damit abermals den Banken geholfen), der deutsche Anteil daran könnte bis zu 148 Mrd. betragen. Auch das sei ohne Alternative, betont die Bundeskanzlerin erneut. Ergebnis: Beide Male zahlen vor allem die Steuerzahler die Zeche, die eigentlichen Verursacher werden nicht zur Kasse gebeten, über die Beteiligung der Banken und der Hedgefonds wird nämlich bislang nur diskutiert, geschehen ist diesbezüglich praktisch nichts. Ich bin entsetzt.

Das soll jetzt anders werden, versichern die Verantwortlichen. Drei Jahre nach Ausbruch der Subprime-Krise will man die Spekulanten endlich an die Kandare nehmen, beteuern sie treuherzig. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Inzwischen ist viel zu viel Zeit verstrichen, die man anders hätte nutzen müssen. Momentan bluten, wie gehabt, lediglich die Kleinen. Die Griechen hätten eben über ihre Verhältnisse gelebt, hört man allenthalben, differenziert wird dabei allerdings kaum. Wenn zwei Drittel der Griechen mit 700 Euro im Monat auskommen müssen und 60 Prozent der griechischen Rentner monatlich weniger als 600 Euro bekommen, frage ich mich, WER dort eigentlich über seine Verhältnisse gelebt hat. Wirklich der sogenannte kleine Mann auf der Straße? Dem streicht man nun jedoch bis zu 30 Prozent seines Einkommens, da sind die geharnischten Proteste der Betroffenen durchaus verständlich. In Spanien passiert das Gleiche: Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst und Nullrunden für die Rentner, Besserverdienende und Banken bleiben dagegen ungeschoren. In Lettland - vermutlich nicht nur dort - predigt das Establishment anderen Wasser und säuft selbst Wein. [1] Ich bin entsetzt. Wäre ich Marxist, würde ich sagen: So schafft man revolutionäres Potential.

Es geht mir nicht um die Rettungspakete an sich (die Alternative - es gibt sie sehr wohl - wäre vielleicht tatsächlich der Kollaps des Finanzsystems), sondern um Gerechtigkeit. Wenn gespart werden soll, dann doch entsprechend der Leistungsfähigkeit. Und wenn jemand die Zeche zahlen soll, dann doch in erster Linie die Verursacher. Außerdem sollte endlich das Kasino geschlossen werden. Keiner behauptet ernsthaft, Ludwig Erhard wäre Sozialist gewesen, bloß weil es zu jener Zeit noch Kapitalverkehrskontrollen gab. Aber heute bricht angeblich gleich der Sozialismus aus, sobald man den Finanzhaien Fesseln anlegen will. Das ist dumm, schlicht und ergreifend dumm. Genauso wie die Phrase "Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt". Das gilt nicht für Deutschland: Wir haben seit Einführung des Euro am 01.01.1999 einen Leistungsbilanzüberschuss von insgesamt 889,35 Mrd. Euro erwirtschaftet - mit ein Grund für die gegenwärtigen Ungleichgewichte in Europa. [2] Deutschland lebt in Wahrheit UNTER seinen Verhältnissen. Stellen Sie einmal die Frage, wo das ganze Geld geblieben ist. Bei den deutschen Arbeitnehmern jedenfalls nicht, weil hierzulande die Reallöhne seit mindestens 15 Jahren im Sinkflug sind.


[Quelle: Deutsche Bundesbank, rote und grüne Linie sowie grüne Schrift durch den Autor hinzugefügt]

Ich bin entsetzt über das Niveau der Diskussion. Ich bin entsetzt über die dämlichen Vorurteile, die der Boulevard wie immer glänzend zu schüren weiß. Ich bin entsetzt über die Verlogenheit der Verantwortlichen. Wenn denen das System irgendwann um die Ohren fliegt, wissen wir wenigstens, warum.

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[1] siehe Lettlands Robin Hood ist enttarnt, Süddeutsche vom 17.05.2010
[2] Deutsche Bundesbank, Saldo der Leistungsbilanz / saisonbereinigt