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13. Juni 2010, von Michael Schöfer
Gummiparagraphen


Oppositionelle waren schon von jeher ziemlich lästig, daher haben die Herrschenden stets nach Mitteln und Wegen gesucht, ihre Widersacher an die Kandare zu nehmen. Nach außen hin müssen sie dabei allerdings den Eindruck erwecken, dass dem Rechtsstaat formal Genüge getan wird und die Schuld natürlich allein beim Oppositionellen selbst zu suchen sei. Ein probates Mittel hierfür sind Gummiparagraphen, die man je nach Gutdünken auslegen kann. Sie dienen sozusagen als juristisches Feigenblatt.

Äußerst beliebte Gummiparagraphen sind Bestimmungen wie etwa die "Verbreitung falscher Nachrichten". Was falsch oder richtig ist, entscheiden selbstverständlich allein die Machthaber, demzufolge kann jede beliebige Meinungsäußerung kurzerhand als falsch bezeichnet und damit verboten werden. Unbestimmte Rechtsbegriffe wie "Rowdytum", "Ungesetzliche Verbindungsaufnahme", "Staatsfeindliche Hetze", "Missbrauch der Medien für die bürgerliche Ideologie", "Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung", "Verächtlichmachung", "Ungesetzliche Sammlung von Nachrichten", "Staatsverleumdung" und "Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit" (Bestimmungen aus dem Strafgesetzbuch der ehemaligen DDR) sind wie geschaffen dafür, jede abweichende Meinung mit Hilfe einer willfährigen Justiz zu unterbinden und zu bestrafen. Unter Stalin war sogar "Karrierismus" verboten - was immer man darunter verstehen mag.

Die Nazis hantierten gerne mit der "Verletzung des sittlichen Gefühls und Zersetzung des Wehrwillens des deutschen Volkes", um missliebige Personen zu drangsalieren, was der Künster Otto Dix bereits 1933 zu spüren bekam, dessen Bilder seinerzeit als "gemalte Wehrsabotage" diffamiert wurden. In der Türkei gibt es heute noch den Straftatbestand "Herabsetzung des Türkentums" (2008 umbenannt in "Beleidigung der türkischen Nation"), worunter vor allem Schriftsteller wie der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, Journalisten wie Hrant Dink und Menschenrechts-Aktivisten wie Eren Keskin zu leiden hatten. In Ägypten rückt man Dissidenten u.a. mit dem Verbot der "Beleidigung der Staatsmacht" zu Leibe. In China heißen die juristischen Folterinstrumente "Separatismus", "Subversion", "Störung der öffentlichen Ordnung", "Gefährdung der Staatssicherheit", "Verrat von Staatsgeheimnissen" oder "Aufruf zur Untergrabung der Staatsmacht". Andersdenkende werden dort schnell als "Konterrevolutionäre" bezeichnet. Die Liste könnte man fast endlos fortsetzen, in zahlreichen Staaten finden sich ähnliche Bestimmungen, die alle nur einem einzigen Zweck dienen: die herrschenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten.

"Deutschland und Russland rücken enger zusammen", hieß es vor kurzem. Russlands Präsident Dmitri Medwedew dringt auf die Visafreiheit seiner Bürger. "Diese Entscheidung würde das Leben zahlreicher Menschen radikal ändern und uns zu wahren strategischen Partnern machen." [1] Medwedew schwadroniert gerne über die Fortentwicklung des russischen Rechts- und Gerichtssystems, das habe für ihn höchste Priorität. Angeblich will er den Rechtsstaat und die Marktwirtschaft stärken, die Zivilgesellschaft und die freie Presse fördern sowie die Unabhängigkeit der Justiz garantieren. Ständig über den Rechtsstaat reden ist eine Sache, eine andere ist die Realität. Beides klafft in Russland weit auseinander.

So soll zum Beispiel der russische Geheimdienst FSB, Nachfolgeorganisation des berühmt-berüchtigten KGB, demnächst neue gesetzliche Befugnisse erhalten. Offiziell dienen sie dem Schutz vor Terrorismus und sozialen Unruhen, davon betroffen sind jedoch vor allem Journalisten. "Der FSB soll künftig Journalisten und verdächtige Bürger vorladen und, sollten diese den Warnungen des Geheimdienstes nicht Folge leisten, sie sogar einsperren dürfen. 'Einzelne Medien' förderten 'negative geistige Prozesse', heißt es in der Erklärung zum Entwurf, sie betrieben einen 'Kult des Individualismus und der Gewalt, des Unglaubens in die Fähigkeit des Staates, seine Bürger zu schützen'." [2] Allesamt Gummiparagraphen. Das geplante und in der ersten Lesung der Duma bereits gebilligte Gesetz ist, anderweitigen Bekundungen zum Trotz, faktisch eine weitere Einschränkung der ohnehin schon begrenzten Pressefreiheit. Eingebracht wurde der Gesetzentwurf von Ministerpräsident Wladimir Putin, der vor seiner politischen Laufbahn Karriere als KGB-Offizier machte. "Russland versinke im Autoritarismus", kritisieren Menschenrechtler. Und das vollkommen zu Recht. Die unselige autoritäre Tradition, die sich von den Zaren über den Kommunismus bis zur Gegenwart erstreckt, wird damit fortgesetzt.

Wie man sieht, ist der Weg zu wirklich rechtsstaatlichen Verhältnissen noch weit - nicht nur in Russland.

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[1] Focus vom 06.06.2010
[2] Süddeutsche vom 12.06.2010