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21. Juli 2010, von Michael Schöfer
Die Tragödie eines Volkes

(eine Rezension)

Der Kommunismus ist wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus diskreditiert, vielleicht sogar für immer, dennoch lohnt sich der Rückblick darauf, wie er sich Anfang des 20. Jahrhunderts ausgerechnet im rückständigen Russland durchgesetzt hat. Orlando Figes, ein renommierter britischer Historiker und ausgewiesener Russlandexperte, hat über die russische Revolution (1917) ein monumentales Standardwerk vorgelegt. Für diejenigen, die wissen wollen, warum sich damals die Anhänger eines gewissen Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, durchgesetzt haben, ist dieses Buch ein absolutes Muss.

Figes präsentiert uns in seinem 873-Seiten-Wälzer den gesellschaftlichen Hintergrund des zaristischen Russland, ohne den weder der Niedergang der Monarchie, das Versagen der Liberalen in den Monaten nach der Februarrevolution noch die anschließende Machtübernahme der Bolschewiki zu verstehen sind. Der Zeitrahmen umfasst hierbei die Jahre zwischen 1891 und 1924. Was Figes im Gegensatz zu vielen anderen auszeichnet, ist seine offenkundige Objektivität.

Der Brite zeigt nämlich keinerlei Sympathie für die Politik von Nikolai, des letzten Zaren. Dessen Wille, an der persönlichen Autokratie, dem Herrschaftsmodell des Mittelalters, festzuhalten, macht er für die Verwerfungen verantwortlich, die am Ende fast zwangsläufig in die Revolution münden mussten. Andere Herrschaftshäuser in Europa, etwa in England oder Skandinavien, fanden den Weg zu einer konstitutionellen Monarchie, was sie letztlich gerettet hat. Dieses Modell hat Nikolai ausdrücklich abgelehnt, die Revolution war damit quasi unvermeidbar. Folglich kann man Figes keine rückwärtsgewandte Idealisierung der Monarchie vorwerfen, wie sie im heutigen Russland gang und gäbe ist.

Er kritisiert aber ebenso sehr die unsägliche Terrorherrschaft der Kommunisten, die sich in nichts von der Terrorherrschaft der Zaren unterschied. Insofern ist ihm auch jegliche sozialistische Verklärung und naive Revolutionsromantik fremd. Stellvertretend für seine Haltung zitiert er den Zeitzeugen Maxim Gorki:

"Als am 9. Januar 1905 die gequälten und gepeinigten Soldaten auf kaiserlichen Befehl auf die unbewaffneten und friedlichen Arbeitermassen schossen, liefen die Intellektuellen und die Arbeiter zu den Soldaten - den unfreiwilligen Mördern - und schrien ihnen ins Gesicht: 'Verdammt, was macht ihr? Wen bringt ihr um?' Die Mehrheit der zaristischen Soldaten antwortete auf Vorwürfe und Überredungsversuche mit trostlosen und sklavischen Worten: 'Wir schießen auf Befehl. Wir wissen nichts - wir gehorchen.' Und sie schossen wie Maschinen in die Menschenmenge. Vielleicht taten sie es ungern, widerstrebend, aber sie schossen.
Am 5. Januar 1918 demonstrierte die Petersburger Demokratie - Arbeiter Angestellte - friedlich zu Ehren der Konstituierenden Versammlung. Die besten russischen Menschen haben fast hundert Jahre für die Idee der Konstituierenden Versammlung gelebt. Ströme von Blut flossen auf dem Opferaltar dieser heiligen Idee, und jetzt haben die 'Volkskommissare' befohlen, die Demokratie zu erschießen, die zu Ehren dieser Idee demonstrierte. Am 5. Januar wurden also die unbewaffneten Arbeiter Petrograds zusammengeschossen. Sie wurden ohne vorherige Warnung zusammengeschossen, und man erschoss sie so feige, wie es nur Mörder tun: aus dem Hinterhalt und durch Zaunritzen. Und genauso wie am 9. Januar 1905 fragten Leute, die noch nicht den Verstand verloren hatten, die Schützen: 'Was macht ihr, ihr Idioten? Marschieren da nicht eure eigenen Leute? Seht doch, überall sind rote Fahnen.' Und ebenso wie die Soldaten des Zaren antworteten diese Mörder 'auf Befehl': 'Es ist Befehl. Wir schießen auf Befehl.' Ich fragte die 'Volkskommissare', unter denen es doch ehrliche und einsichtige Leute geben muss: Begreifen sie nicht, dass sie die gesunde russische Demokratie unvermeidlich ersticken und alle Errungenschaften der Revolution vernichten? Verstehen sie dies? Oder denken sie vielmehr: Entweder wir haben die Macht, oder alles und alle sollen zugrunde gehen?" (Seite 544f)

Die Russen kamen also gewissermaßen vom Regen in die Traufe. Kein Wunder, wenn Figes seinem Werk den Titel "Die Tragödie eines Volkes" gab. Ein Buch, das mich von der ersten bis zur letzten Zeile begeistert hat. Absolut lesenswert.