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09. Oktober 2010, von Michael Schöfer
Die neue Prüderie


Im Musée d"Art Moderne de la Ville de Paris werden zur Zeit Bilder des amerikanischen Fotographen Larry Clark gezeigt. Die Pariser Stadtverwaltung hat allerdings verfügt, Jugendlichen unter 18 Jahren den Besuch der Ausstellung mit dem Verweis auf das 2007 verschärfte Gesetz, das die öffentliche Zurschaustellung von Pornographie unter Strafe stellt, zu verbieten. [1] Es geht u.a. um solche Bilder.

In Österreich hat das Wiener Staatsballett der Solistin Karina Sarkissova wegen freizügiger Bilder, die im Magazin "Wiener" erschienen sind, kurzerhand den Stuhl vor die Tür gesetzt. Fristlose Kündigung! "Bereits im Mai 2010 sei Sarkissova vom damaligen Ballettchef Gyula Harangozo 'verwarnt' worden, weil in der Juni-Ausgabe des Magazins 'Penthouse' Nacktfotos von ihr veröffentlicht wurden. (...) Staatsopern-Direktor Dominique Meyer sagte, die Compagnie sei 'schockiert' gewesen." [2] In der Tat, absolut schockierend, diese Fotos. Abgesehen von der juristischen Bewertung: Leben wir neuerdings wieder in einem Zeitalter der Prüderie? Die Viktorianische Epoche ist doch im Grunde längst passé, oder nicht?

In den USA versucht der Golfprofi Tiger Woods seine "Sexsucht" mit Hilfe einer Therapie zu kurieren. Das Vergehen: Woods betrog seine Ehefrau mit mehreren Geliebten, angeblich sei er im Laufe seiner fünfjährigen Ehe mit 14 Damen fremd gegangen. [3] Unter Sexsucht sollen auch Tony Curtis, Jack Nicholson, Mick Jagger und Michael Douglas gelitten haben bzw. leiden. Und natürlich Jörg Kachelmann: Der Boulevard hat sich ja genüsslich über die Parallelbeziehungen des Fernseh-Wetterfroschs ausgelassen, unabhängig vom Vorwurf der Vergewaltigung sollen ihn offenbar schon allein seine vielen Liebschaften diskreditieren. "In den vergangenen zwölf Jahren glaubten 14 Frauen (darunter auch zwei Prominente), die einzig wahre Freundin des Fernsehmannes zu sein", schreibt das Blatt mit den großen Buchstaben. [4] 14 Frauen in zwölf Jahren? Sexsucht? Jeder Vorstadt-Casanova würde darüber höchstens müde lächeln. "Sexsucht! Ich bitte Sie, meine Herren, Sexsucht! Bei aller Liebe, aber das ist doch nur ein schönes Wort für den Boulevard", konstatiert der ehemalige Torhüter der Fußballnationalmannschaft, Oliver Kahn, in einem Interview und trifft damit den Nagel genau auf den Kopf. [5]

Die Prüderie feiert dennoch fröhliche Urständ: Stephanie zu Guttenberg, die Ehefrau unseres populären Verteidigungsministers, ist nämlich der Ansicht, dass Kinder durch "halbnackte Popstars und pornoartige Musikvideos (...) ein völlig verzerrtes Bild von Sexualität" bekämen. Sängerinnen wie Rihanna (durchsichtiger Ganzkörper-Spitzenanzug mit Leder-Schaftstiefeln und Leder-Handschuhen), Christina Aguilera (Latex-Korsett mit Nietenarmbändern), Britney Spears (an einer Striptease-Stange in Slip und BH), Lady Gaga (schwarzes Leder-Mieder, Strapse, freie Pobacken) oder Madonna würden in ihren Videoclips oder Auftritten kaum noch ohne den sogenannten "Porno-Chic" auskommen. Das mache Kinder zugleich anfällig für sexuelle Gewalt, behauptet Frau zu Guttenberg. [6] Doch die reale Gefahr lauert gar nicht in den von ihr angeprangerten Videoclips oder Auftritten. Und zumindest überwiegend ebenso wenig im Internet, sondern ganz woanders: Die Täter seien "zumeist keine Fremden, die sich ihr Opfer scheinbar zufällig und meist gewaltsam suchen. Im Gegenteil: Etwa drei Viertel aller Missbrauchsfälle geschehen im Bekannten- oder Verwandtenkreis der Kinder", erläutert die Polizei. [7] Das hat mit dem MTV- und Internet-Zeitalter herzlich wenig zu tun.

Übrigens: Der Sexuelle Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB) ist in der Bundesrepublik entgegen dem Eindruck, den die Medien vermitteln, zwischen 1993 (15.430 Fälle) und 2009 (11.319 Fälle) um 26,6 Prozent zurückgegangen. [8] Das belegen die Zahlen über die angezeigten Straftaten. Darüber hätte sich die Ministergattin, bevor sie die Pferde scheu macht, erst einmal informieren müssen. Obgleich man wie bei jeder anderen Straftat, so auch hier, von einem kaum zu taxierenden Dunkelfeld ausgeht, gibt es für den schrillen Alarmismus, zu dem Frau zu Guttenberg neigt, überhaupt keinen Anlass. Man darf das Thema weder verharmlosen noch unnötig dramatisieren. Gewiss, jeder Fall ist schlimm, aber ob das Problem wirklich an Madonnas Outfit liegt, wage ich zu bezweifeln. Das ist eher eine Geschmacksfrage. Und über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Früher ging das Abendland, wie wir damals gemerkt haben, an den Frisuren der Beatles zugrunde. Heute spielt in Popkonzerten getragene Unterwäsche die entscheidende Rolle. Moralapostel sterben wohl niemals aus.

Polizeiliche Kriminalstatistik
erfasste Fälle Sexueller Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB)
1993 15430
1994 15096
1995 16013
1996 15674
1997 16888
1998 16596
1999 15279
2000 15581
2001 15117
2002 15998
2003 15430
2004 15255
2005 13962
2006 12765
2007 12772
2008 12052
2009 11319
Quelle: Bundesministerium des Innern, PKS 2005- 2009



Sex sells, eine Binsenweisheit. In den USA soll die Pornoindustrie jährlich einen Umsatz von 13 Mrd. Dollar erwirtschaften [9]. "Mit allein 800 Millionen Euro in der DVD Produktion, ist die Pornofilmbranche einer der wirtschaftsstärksten Zweige Deutschlands. (...) Weltweit wird nach Angaben der britischen Wochenzeitschrift 'The Economist' derzeit ein Umsatz von rund 20 Milliarden Dollar pro Jahr erwirtschaftet. Damit macht die Pornoindustrie schätzungsweise 1,5 Milliarden Euro mehr Umsatz als Hollywood", schreibt David Lochner von der Fakultät Medien der Hochschule Mittweida.

Doch nicht nur der "Titten-Faktor" bringt Umsätze, sondern genauso die Prüderie, die das Bedürfnis nach Sexualität wie gehabt pathologisiert. Postwendend kriechen die Geschäftemacher aus ihren Löchern: "Seit der Weltklasse-Golfer Tiger Woods öffentlich Abbitte tat, verbreitet sich Sexsucht erneut wie eine Epidemie. In den USA boomt das Geschäft mit der Therapie und auch in Deutschland suchen immer mehr Männer professionelle Hilfe." [10] Es ist stets das Gleiche: Wenn ein Prominenter zugibt, Ufos gesehen zu haben, werden plötzlich andernorts ebenfalls lauter Ufos gesichtet. Nun ist es eben die "Sexsucht".

Was soll man davon halten? Ist das über dem Durchschnitt liegende Bedürfnis nach Sexualität, in der Bundesrepublik sind das angeblich 98 Mal im Jahr [11], wirklich krankhaft? Bereits vor mehr als vierzig Jahren hat der kürzlich verstorbene Filmproduzent Oswalt Kolle (Deine Frau, das unbekannte Wesen) gezeigt, dass die Verklemmtheit der 50er Jahre mindestens genauso schädlich war. Ist die neue Prüderie à la Guttenberg bloß das letzte Rückzuggefecht total irritierter Konservativer? Oder droht tatsächlich die Rolle rückwärts?

Halten wir fest: Keiner gibt zu, Pornos zu konsumieren, aber woher kommen dann die riesigen Umsätze der Pornoindustrie? Männer - Verzeihung - ficken gerne. Und weil dazu immer noch zwei gehören, tun es Frauen logischerweise mindestens ebenso bereitwillig. Die offizielle Moral predigt zwar die Treue, gleichwohl geben "zwei von drei Frauen und drei von vier Männern zu, mindestens einmal fremdgegangen zu sein." [12] Die Deutschen, ein Volk von Fegefeuer-Aspiranten! Papst Benedikt XVI. hat schon von jeher vor den üblen Folgen unseres gottlosen Lebenswandels gewarnt.

Wer Sexualität moralisch überhöht, erzeugt lediglich ein schlechtes Gewissen und fördert allenfalls die Heuchelei, denn getan wird es ohnehin. 2.000 Jahre katholische Sexualfeindlichkeit haben zweifellos ihre Spuren hinterlassen. Und mit der Befreiung von diesem Joch haben einige offensichtlich nach wie vor ihre Probleme. Die ehemalige Nachrichtensprecherin Eva Herman wollte uns vor Jahren ebenfalls mit ihrem rigiden, rückwärtsgewandten Familienbild (Das Eva-Prinzip) beglücken. Lange gehalten hat sich die Diskussion darüber allerdings nicht. Zum Glück. Herman hat schnell gemerkt: Die geistige Burka ist hierzulande als ethische Richtschnur wenig attraktiv. Man erregt Aufsehen, aber mehr auch nicht.

In meinen Augen gibt es in dieser Hinsicht keinen absoluten moralischen Maßstab, an dem die Menschen ihr Verhalten auszurichten hätten. Deshalb ist alles, was Erwachsene in freier Entscheidung miteinander tun, erlaubt. Wohlgemerkt, ich spreche hier nicht von strafrechtlich relevanten Dingen, wie etwa Kinderpornos. Ob sie sich für Promiskuität entscheiden oder für die Treue, ist vollkommen irrelevant und geht niemanden etwas an, schon gar nicht die Öffentlichkeit. Es ist demzufolge keineswegs verwerflich, promisk zu leben. Das muss eben jeder für sich selbst entscheiden und mit seinem eigenen Gewissen ausmachen. Wer sich dagegen an "Strapsen und freien Pobacken" stört, kann ja künftig den Musikantenstadl anschauen.

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[1] Süddeutsche vom 09.10.2010
[2] Der Standard vom 08.10.2010
[3] Die Presse.com vom 14.01.2010
[4] Bild vom 26.05.2010
[5] Süddeutsche vom 03.04.2010
[6] Die Welt-Online vom 13.09.2010
[7] Landeskriminalamt Baden-Württemberg
[8] Bundesministerium des Innern, Polizeiliche Kriminalstatistik 2000, Seite 36, PDF-Datei mit 354 kb und Polizeiliche Kriminalstatistik 2009, Seite 36, PDF-Datei mit 1,2 MB
[9] Der Tagesspiegel vom 07.01.2009
[10] Die Welt-Online vom 11.05.2010
[11] RP-Online vom 11.10.2004
[12] RP-Online vom 02.04.2004