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11. Oktober 2010, von Michael Schöfer
Unterschiedliche Reaktionen sind entlarvend


Im April 2010, da war der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche gerade auf seinem Höhepunkt, veröffentlichte das Satiremagazin "Titanic" unter der Bezeichnung "Kirche heute" ein Titelbild, das damals heiß umstritten war. Beim Deutschen Presserat gingen 198 Beschwerden ein, allerdings hat dieser auf eine Rüge verzichtet. "Das Titelbild zeigt ein Gemälde, auf dem ein Kruzifix dargestellt ist, davor steht mit dem Rücken zum Betrachter ein katholischer Bischof, dessen Kopf die Hüfte des Gekreuzigten abwärts verdeckt, darunter stehen die Worte 'Kirche heute'." Der Beschwerdeausschuss des Pressrats hat deutlich gemacht, "dass die Karikatur die zugespitzte Darstellung eines gesellschaftlichen Missstandes innerhalb der Institution Kirche sei und als solche nicht eine Religion schmähe. Aufgabe von Karikaturen und Satire sei es, Diskussionen in einer Gesellschaft so aufzugreifen, dass sie diese pointiert und manchmal auch an Grenzen gehend darstelle." [1] Weder Jesus noch der christliche Glaube werde durch die Karikatur verhöhnt, sondern nur das Verhalten christlicher Würdenträger kritisiert, die sich falsch verhalten hätten. Das Satiremagazin greife damit lediglich den Missbrauchsskandal auf.

Auch die Staatsanwaltschaft Frankfurt lehnte ein Strafverfahren gegen die Titanic-Redaktion ab, 18 eingegangene Strafanzeigen wurden von ihr zurückgewiesen. "Die juristischen Vorwürfe der 'Volksverhetzung' und der 'Beschimpfung von Bekenntnissen' seien unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit nicht haltbar. (…) Zur Begründung erklärte die Staatsanwaltschaft, Satire lebe von Verzerrung und Übertreibung. 'Volksverhetzung' sei deshalb nicht gegeben, da in der Karikatur nicht eine Gruppe, sondern eine Institution kritisiert werde. 'Der öffentliche Frieden wird durch die Zeichnung nicht gestört, da dieser durch den Missbrauchsskandal bereits gestört worden ist', sagte eine Sprecherin." [2] Der Hinweis auf die vom Grundgesetz geschützte Meinungsfreiheit ist in diesem Zusammenhang extrem wichtig, den sollten wir uns merken.

Titanic-Chefredakteur Leo Fischer verstand den Wirbel ohnehin nicht, denn es werde nur ein Priester gezeigt, der sich demütig dem Gekreuzigten nähere. Sich weniger naiv gerierende Zeitgenossen sahen in der Karikatur einen Priester, der den Gekreuzigten oral befriedigt. Natürlich erhob sich daraufhin ein großes Geschrei: "Gotteslästerungen müssen verboten werden", hieß es in einschlägigen Foren. Hier werde der christliche Glaube beleidigt und die Kirche zum Abschuss freigegeben. Von gewaltsamen Demonstrationen oder Einschüchterungsversuchen gegenüber dem Magazin bzw. dem Zeichner ist freilich nichts bekannt geworden. Morddrohungen sind dort jedenfalls, wie mir die Redaktion versichert, keine eingegangen.


Das umstrittene Titelblatt
[mit freundlicher Genehmigung des TITANIC-Magazins]

Im Gegensatz dazu hat die islamische Welt auf die Mohammed-Karikatur des Karikaturisten Kurt Westergaard, die 2005 in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten erschienen ist, mit gewalttätigen Protesten und Morddrohungen reagiert. Es kamen dabei mehr als 50 Menschen ums Leben. Ein Mordanschlag auf Westergaard scheiterte am Neujahrstag 2010 nur knapp. Der Karikaturist, auf den angeblich ein hohes Kopfgeld ausgesetzt ist, teilt gewissermaßen das Schicksal des Schriftstellers Salman Rushdie, der wegen seines Romans "Die Satanischen Verse" vom iranischen Revolutionsführer Chomeini in einer Fatwa zum Tode verurteilt wurde und seitdem im Verborgenen leben muss. Auch Westergaard kann sich nie sicher fühlen.

Nun wurde der dänische Karikaturist mit dem 30.000 Euro dotieren "Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien" geehrt, er erhielt den Preis zusammen mit dem bulgarischen Reporter Assen Yordanov und dem afghanischen Journalisten Sayed Yaqub Ibrahimi. Bei der Preisverleihung äußerte Ibrahimi Kritik an der Ehrung Westergaards "Er halte die Karikaturen für zu 'extremistisch'. (…) Die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi und ihr Landsmann, der Journalist und Regimekritiker Akbar Ganji blieben unter Protest der Preisverleihung fern. Ebadi sieht mit den Karikaturen die religiösen Gefühle verletzt." [3] Eine seltsame Reaktion für eine Nobelpreisträgerin, die 2003 für ihre Bemühungen um Demokratie und Menschenrechte ausgezeichnet wurde. Was sie unter Demokratie versteht, ist fraglich. Das Demokratieverständnis der englischen Schriftstellerin Evelyn Beatrice Hall (1868-1919) ist es wohl kaum: "Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen." (Fälschlicherweise wird dieser Satz gemeinhin Voltaire zugeschrieben.)

Vor einem Monat ist Westergaard bereits mit dem Medienpreis der Potsdamer Journalisten-Vereinigung ausgezeichnet worden. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den Preis überreichte, erklärte in ihrer Rede: "Europa ist ein Ort, in dem ein Zeichner so etwas darf. (…) Egal, ob wir seine Karikaturen für nötig oder hilfreich halten." Merkel äußerte sich also ganz im Sinne Evelyn Beatrice Halls. Dort, wo es angebracht ist, soll man die Bundeskanzlerin auch einmal loben. Und hier ist es angebracht. Laudator Joachim Gauck fügte hinzu: "Religionsfreiheit bedeutet nicht, dass die Scharia über dem Grundgesetz steht (...) Kein kultureller Unterschied kann die Missachtung der Grundrechte rechtfertigen." [4]

Doch nicht nur Muslime fanden die Preisverleihung an Westergaard deplatziert, sogar bei grünen Politikern wurde Kritik laut. "Ich halte es für unklug. Für eine Staatsfrau halte ich es für sehr unklug", sagte etwa Antje Vollmer. "Ich hätte es nicht gemacht", bekundete Renate Künast. [5] Beide meinten damit die Würdigung Westergaards durch Angela Merkel. Mit Verlaub, das ist Duckmäusertum par excellence. "Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Berlin regiert wird von einer Frau, die sich mehr um die möglichen Reaktionen von religiösen Fanatikern sorgt als um den Wert unserer Grundrechte", kommentierte Der Tagesspiegel die Äußerung von Renate Künast. [6]

Ist es nicht eigenartig, wie unterschiedlich die Reaktionen auf die Karikaturen von Westergaard und der Satirezeitung Titanic ausfallen? Westergaard habe mit seiner Mohammed-Karikatur die Muslime bewusst provoziert, manche werfen ihm sogar Rassismus vor. Der Titanic hingegen lässt man die Provokation der Christenheit - zu Recht - durchgehen. Bei der Mohammed-Karikatur schwingt immer die Angst vor der Reaktion gewalttätiger Muslime mit. Über die Kirchen-Karikatur des Satiremagazins lächelt man allenfalls, offenbar weil von Seiten der Katholiken keine Gewalt befürchtet wird. Deshalb steht man hier uneingeschränkt zur Meinungsfreiheit. Oder sagen wir, in diesem Fall glaubt man es sich leisten zu können. Die gesellschaftliche Courage verhält sich anscheinend umgekehrt proportional zur Bedrohungslage. Aber kann das unser Maßstab sein? Entscheidet wirklich das subjektive Befinden (sprich: das Beleidigtsein) bestimmter Gruppen über die Zulässigkeit von Aussagen? Dann würde ja gelten: Je beleidigter und gewalttätiger, desto durchsetzungsfähiger. Den freien Wettstreit der Meinungen könnte man unter solchen Umständen vergessen.

Bezeichnend für die prekäre Situation ist auch das Schicksal der amerikanischen Comiczeichnerin Molly Norris. Nur weil sie kürzlich auf dem Sozialnetzwerk Facebook einen internationalen "Zeichnet-Mohammed-Tag" ausgerufen hat, muss sie sich versteckt halten. Anwar al-Awlaki, ein muslimischer Geistlicher, erließ nämlich umgehend eine Todes-Fatwa. [7] Norris lebt jetzt unter falschem Namen an einem unbekannten Ort. Die Fragen "Wie weit geht die Meinungsfreiheit?" und "Was dürfen Karikaturen?" sind berechtigt. Doch mindestens genauso berechtigt sind: "Muss ich vor der Gewalt wirklich einknicken?" und "Gilt das islamische Bilderverbot auch im Westen?". Ich sage: Im Zweifel für die Meinungsfreiheit. Religionen, egal welche, stehen keinesfalls außerhalb jeglicher Kritik. Nichts und niemand steht außerhalb jeglicher Kritik. Das gehört schließlich zu den Fundamenten unserer Demokratie. Wo die Angst Einfluss gewinnt, ist die Freiheit, das zu sagen, was man möchte, auf dem Rückzug. Am Ende traut man sich dann gar nichts mehr zu sagen, es könnte sich ja irgendjemand beleidigt fühlen. Und wo die freie Diskussion eingeschränkt wird, stirbt am Ende auch die Demokratie.

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[1] sat+kabel vom 28.05.2010
[2] Die Welt-Online vom 23.04.2010
[3] Deutsche Welle vom 09.10.2010
[4] Spiegel-Online vom 09.09.2010
[5] Perlentaucher vom 23.09.2010
[6] Der Tagesspiegel  vom 10.09.2010
[7] Die Welt-Online vom 22.09.2010