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12. Oktober 2010, von Michael Schöfer
Probleme mit der Freiheit


Die Vergabe des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo wird nicht von jedem begrüßt. Neben den Autokraten in Peking gibt es auch hierzulande Menschen, die Liu für den falschen Preisträger halten. Und die, wie wir noch sehen werden, mit äußerst merkwürdigen Begründungen daherkommen. Auf "german-foreign-policy.com" ist zum Beispiel eine Philippika gegen Liu Xiaobo im Allgemeinen und die von ihm maßgeblich mitformulierte "Charta 08" [1] im Besonderen nachzulesen:

Darin heißt es: "Liu habe den Preis für seinen 'Kampf für fundamentale Menschenrechte in China' erhalten, schreibt das Auswärtige Amt. Tatsächlich laufen Lius Forderungen auf nicht weniger denn den Umsturz der Volksrepublik China hinaus. Die von ihm mitverfasste 'Charter 08' ist im Unterschied zu den Petitionen anderer chinesischer 'Dissidenten' keine Menschenrechtsresolution, sondern vielmehr ein umfassendes politisches Programm, das eine grundsätzliche Umgestaltung Chinas verlangt, darunter den Aufbau eines föderativen Bundesstaates nach dem Modell der Bundesrepublik Deutschland, der vollständig mit jahrtausendealten chinesischen Staatstraditionen bricht." Und es werden Schreckgespenster aufgebaut: Die "Charta 08" fordere, "sämtliche seit der Gründung der Volksrepublik vollzogenen Nationalisierungsmaßnahmen" rückgängig zu machen und "die Übergabe des seit Jahrzehnten von Kleinbauern genutzten Landes an einstige Großgrundbesitzer". Insgesamt gehe es in der "Charta 08" weniger um "Meinungsfreiheit" oder "Demokratie", sondern vielmehr um die "politisch-ökonomische Ordnung".

Warum haben manche Linke eigentlich so viel Probleme mit der Freiheit? Wenn die "Charta 08", wie die Redaktion vorwurfsvoll schreibt, auf den "Umsturz der Volksrepublik China" hinausläuft, stimmt sie Lius Inhaftierung ja im Grunde zu. Hinweis: Liu wurde am 25. Dezember 2009 wegen "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt" verurteilt. Die Redaktion macht sich also gewissermaßen die Argumentation der chinesischen Regierung zu eigen, die in Liu Xiaobo nur einen Kriminellen sieht.

Was sind die zentralen Forderungen der "Charta 08"? Hier stichwortartig die wichtigsten Punkte:
  • Freiheit (Versammlungs- und Organisationsfreiheit, Freizügigkeit, Streikrecht, Demonstrationsrecht, Abschaffung des Monopols der Kommunistischen Partei Chinas, Betätigungsfreiheit politischer Parteien, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit)
  • Menschenrechte (Garantie der persönlichen Freiheit, niemand darf ungesetzlich verhaftet, eingesperrt, vorgeladen, verhört oder bestraft werden, Abschaffung der Arbeitslager)
  • Gleichberechtigung (Gleichheit ohne Ansehen der sozialen Position, des Berufes, Geschlechts, der wirtschaftlichen Situation, der Rasse, Hautfarbe, des Glaubens oder der politischen Ansichten eines Individuums, Gleichheit vor dem Gesetz)
  • Gewaltenteilung und gegenseitige Kontrolle der Institutionen (Legislative, Judikative, Exekutive), Unabhängigkeit der Justiz
  • Demokratie (freie und gleiche Wahlen, Mehrheitsentscheidungen sind zu achten, die grundlegenden Rechte der Minderheit sind zu schützen)
  • Verfassungsgemäßes Regieren
  • Politische Neutralität von Armee und Polizei
  • Schutz des Eigentums
  • Aufbau eines sozialen Sicherungssystems
  • Schutz der Umwelt
  • Rehabilitierung der politisch Verfolgten
Die Erfüllung dieser Forderungen und Ziele würde natürlich die jetzigen chinesischen Machtverhältnisse in der Tat umstürzen, allerdings sind das in meinen Augen lediglich Selbstverständlichkeiten, die in einer freien Gesellschaft zwingend dazugehören und auf die ich unter keinen Umständen verzichten möchte. Kurzum, sie sind vollauf berechtigt. Die Verurteilung von Liu Xiaobo indirekt damit zu rechtfertigen, dass die "Charta 08" auf den Sturz der Kommunisten hinausläuft, ist niederträchtig. Wollen die Autoren das repressive Regime aufrechterhalten? Halten sie es für sakrosankt? Ihre Kritik an Liu und der "Charta 08" ist überdies perfide, sie suchen sich nämlich zwei oder drei Punkte heraus und bauen damit einen Popanz auf.

In der Volksrepublik China gebe es ein Recht auf privates Eigentum, behaupten sie. Ja, theoretisch gibt es auch ein Recht auf Meinungsfreiheit ("Die Bürger der Volksrepublik China genießen die Freiheit der Rede", Artikel 35 der chinesischen Verfassung). In der Verfassung steht auch: "Der Staat respektiert und schützt die Menschenrechte." (Artikel 33) Dass es in China Privateigentum gibt, heißt folglich nicht, dass es dort auch wirklich unter dem Schutz vor staatlicher Willkür steht. Verfassung und Verfassungsrealität klaffen in China bekanntlich weit auseinander. Mit ein Grund, warum die "Charta 08" notwendig ist.

"Der Boden in den Städten ist Staatseigentum. Der Boden auf dem Lande und in den Vororten der Städte ist Kollektiveigentum, mit Ausnahme der Teile, die entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen dem Staat gehören. Grundstücke und Parzellen zur privaten Nutzung auf Acker- und Bergland sind ebenfalls Kollektiveigentum." (Artikel 10 der chinesischen Verfassung) Über Letzteres mag man streiten, aber mangels Meinungsfreiheit darf man darüber in China gar nicht streiten. Die "Charta 08" fordert eine Bodenreform, über die nähere Ausgestaltung schweigt sie sich aus, klagt "german-foreign-policy.com". Zu Recht, denn eine Bodenreform kann ja erst ausgearbeitet werden, wenn die Forderung nach Demokratie erfüllt ist. Schließlich soll das Volk selbst entscheiden (freilich nicht in Pseudoparlamenten, wie dem "Nationalen Volkskongress"). Und dieser Entscheidung greifen die Autoren der Charta verständlicherweise nicht vor. Dass das Land wieder zurück an die einstigen Großgrundbesitzer gehen soll, steht nicht in der "Charta 08", das interpretiert die Redaktion von "german-foreign-policy.com" einfach böswilligerweise in sie hinein. Die Charta fordert die "Privatisierung des Grund und Bodens" sowie die "Garantie von Boden-Eigentumsrechten der Bürger, insbesondere der Bauern". Punkt. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Angeblich soll die Charta Föderalismus "nach dem Modell der Bundesrepublik Deutschland" fordern, aber auch das steht gar nicht ausdrücklich in ihr drin. Diese Interpretation stammt ebenfalls bloß von "german-foreign-policy.com". China sei seit Jahrtausenden ein zentralistisch ausgerichteter Staat, und die Forderung nach Föderalismus widerspreche der chinesischen Staatstradition, schreibt die Redaktion weiter. Die "Charta 08" fordert hingegen nur die friedliche und gleichberechtigte Entwicklung der Regionen: "Es muß mit großer Weisheit und Intelligenz ein Weg und ein praktikables System gefunden werden, die den Nationalitäten [in China] ein gemeinsames Aufblühen ermöglichen. Im Rahmen einer demokratischen und verfaßten [Gesellschaft] sollte eine Bundesrepublik China gegründet werden." Deswegen gleich auf einen Föderalismus à la Bundesrepublik Deutschland zu schließen, ist ziemlich gewagt. Man darf den Chinesen ruhig unterstellen, Änderungen unter Berücksichtigung ihrer Tradition zu vollziehen.

Außerdem kommt mir die Argumentation von "german-foreign-policy.com" so vor wie die Ausflüchte von Autokraten, die gerne behaupten, der Menschenrechtsgedanke widerspreche der Tradition ihres Landes. In Wahrheit wollen die Autokraten damit lediglich von ihnen begangene Menschenrechtsverletzungen verteidigen. Überspitzt formuliert: Uiguren und Tibeter unterdrücken, weil es Tradition hat? Die Demokratie entsprach auch in Deutschland lange Zeit nicht der deutschen Tradition. Hätten wir deshalb auf sie verzichten sollen? Preußen, der deutsche Kernstaat der Reichsgründung im Jahr 1871, war übrigens jahrhundertelang zentralistisch aufgebaut. Föderalismus hatte bei uns ebenfalls keine Tradition (man verwechsle Föderalismus bitte nicht mit der ursprünglich in Mitteleuropa vorherrschenden Zersplitterung in Kleinstaaten).

Und wer behauptet, es gehe in der "Charta 08" weniger um Meinungsfreiheit und Demokratie, hat sie entweder nicht gelesen oder nicht verstanden. Vielleicht auch nicht verstehen wollen. Noch einmal die Frage: Warum haben manche Linke eigentlich so viel Probleme mit der Freiheit?

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[1] aus dem Chinesischen von Dr. Jörg-M. Rudolph, Ostasieninstitut, Fachhochschule Ludwigshafen, mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers [PDF-Datei mit 160 kb]