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23. Oktober 2010, von Michael Schöfer
Von Alphatieren und Wichtelmännchen


Alphatiere sind gefürchtet und werden dennoch insgeheim bewundert. Manche behaupten sogar, sie seien sexy. Naja. Wie auch immer, sie erwecken jedenfalls nach außen hin gerne den Eindruck: "Ich kann alles", "lege dich bloß nicht mit mir an" und "ohne mich geht gar nichts". Jeder kennt bestimmt irgendeinen dieser geborenen Anführer aus der Abteilung "Größenwahn" - in der Firma, im Sportverein, in der Gewerkschaft oder in der Partei.

Alphatiere leben von ihren vielfältigen Verbindungen. Die Fähigkeit, ein Netzwerk aufzubauen, ist bei der Machtausübung nämlich unabdingbar. Ohne Netzwerk sind sie gar nichts, höchstens arme Würstchen. "Wir kennen uns, wir helfen uns", lautet das Motto. Und wer aus der Reihe tanzt, bekommt eins zwischen die Hörner. Regeln gelten dabei immer nur für die anderen. Alphatiere unterliegen selbstverständlich eigenen Regeln. Prinzipien werden von ihnen nur solange anerkannt, wie sie ihnen nützlich erscheinen. Im Grunde sind sie Männer ohne Eigenschaften, die nur um sich selbst kreisen. Ziele, die über den eigenen Aufstieg hinausgehen, sind ihnen suspekt. Sie misstrauen allen Werten. Werte führen sie bloß pro forma im Munde, sind ihnen jedoch keine Richtschnur des Gewissens. Moral ist nur etwas für Schwache. Sie heucheln Freundschaft, meinen aber in Wahrheit lediglich deckungsgleiche Interessen.

Doch irgendwie schaffen sie es trotzdem, uns Angst einzujagen. Wahrscheinlich weil wir uns leicht blenden lassen. Deshalb kuschen die meisten, senden Signale der Unterwerfung und reihen sich gehorsam hinter den Alphatieren ein. Glücklich der, der ihnen wenigstens nützlich erscheint und in der zweiten Reihe geduldet wird. Die zweite Reihe ist doch auch schon etwas, da fallen immerhin gelegentlich ein paar Fleischbrocken ab. Die erste Reihe ist allerdings nur für echte Alphatiere reserviert. Dabei ist vieles an ihnen bloß Fassade. Potemkinsche Dörfer aufbauen, darin sind sie unbestreitbar Meister. Nur dumm, wenn die Fassade plötzlich einstürzt. Dann mutieren Alphatiere schlagartig zu kleinen Wichtelmännchen, die für nichts mehr verantwortlich sind. "Ich doch nicht", versichern sie treuherzig.

Erinnern Sie sich noch an den Abhörskandal bei der Telekom? Der wird momentan vor Gericht aufgearbeitet. Und Kai-Uwe Ricke, der Ex-Chef des Telekommunikationsriesen, steht als Zeuge vor Gericht. Ricke ist eins dieser ehemaligen Alphatiere, jetzt leider bloß noch Wichtelmännchen. "Ricke gab der Abteilung Konzernsicherheit 2005 den Auftrag, herauszufinden, wer aus der Unternehmensspitze immer wieder vertrauliche Informationen an die Presse weitergab. (...) 'Ich habe zu keinem Zeitpunkt von illegalen Methoden gewusst, noch hätte ich sie geduldet.' 'Ich habe mir ehrlich gesagt über die Methoden nicht wirklich Gedanken gemacht.'" [1] Auffallend an seiner Aussage sollen vor allem seine Erinnerungslücken gewesen sein: "Ich erinnere mich nicht", "ich bin mir nicht sicher" etc.

Erst omnipotentes Alphatier, dann vollkommen ahnungslos. Das ist bei Alphatieren ein übliches Muster. Auch Edmund Stoiber, der frühere bayerische Ministerpräsident, konnte sich vor dem Untersuchungsausschuss, der das Debakel der BayernLB mit der Hypo Alpe Adria aufarbeitet, an nichts erinnern. "Er sei als Regierungschef nicht der 'Kontrolleur der Kontrolleure' gewesen", beteuert er heute. [2] Mit "Kontrolleure" meinte er seine Minister im Verwaltungsrat der Landesbank: Ex-Finanzminister Kurt Faltlhauser, Ex-Wirtschaftsminister Erwin Huber und Ex-Innenminister Günther Beckstein. Stoiber wollte Bayern lediglich in die "Champions League" bringen, das ist so etwas wie die Premium-Klasse der ersten Reihe, doch die Verantwortung für die Milliardenverluste der BayernLB könne er natürlich nicht übernehmen.

Er habe "keinerlei Druck" ausgeübt, "diese oder eine andere Bank zu kaufen". "Auch sei er nicht der 'Erfinder der Südosteuropa-Strategie der Landesbank' gewesen." Außerdem gab es "keine roten Warnleuchten", die gezeigt hätten, dass da etwas schief ginge. [3] Alphatiere wissen, solange sie im Amt sind, scheinbar alles. Darauf beruht ihr Mythos, schließlich spielen sie ständig den zielstrebigen Entscheider. Gerne sonnen sie sich in ihren Erfolgen. Wäre die Südosteuropa-Strategie der Landesbank aufgegangen, hätte ihr Erfinder selbstverständlich Edmund Stoiber geheißen. Aber sobald etwas gründlich schief geht, wollen sie uns weismachen, von alledem überhaupt nichts gewusst zu haben. Dann sind sie nur noch kleine Wichtelmännchen. Und ich bin mir jetzt schon sicher, dass Faltlhauser, Huber und Beckstein, drei nicht ganz so erfolgreiche Möchtegern-Alphatiere, ebenfalls nichts gewusst haben. Am Ende sind alle Wichtelmännchen Einwohner im Tal der Ahnungslosen.

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[1] Süddeutsche vom 22.10.2010
[2] FAZ.NET vom 13.10.2010
[3] Augsburger Allgemeine vom 13.10.2010