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04. Dezember 2010, von Michael Schöfer
Kultur der Lüge


Was wäre, wenn ein chinesischer Bürgerrechtler, nennen wir ihn Zhao Chongwei, Zugang zu geheimen Dokumenten der Kommunistischen Partei Chinas hätte und diese im Internet veröffentlichen würde? Natürlich mit dem erklärten Ziel, die großen und kleinen Lügen der Machthaber aufzudecken, etwa ihre bislang unveröffentlichten Befehle an die Armee zum Zeitpunkt des Massakers auf dem Platz des himmlischen Friedens (4. Juni 1989). Was wäre, wenn die Regierung in Peking anschließend auf alle Internet-Provider, auf deren Server die Daten gespeichert sind, massiven Druck ausüben würde? Was bekäme man von westlichen Regierungen zu hören, wenn die chinesischen Behörden den ins Ausland geflüchteten Bürgerrechtler wegen Spionage anklagen und weltweit per Haftbefehl suchen würden?

Zhao Chongwei hätte sicherlich gute Chancen, diverse Menschenrechtspreise einzuheimsen. Wäre ihm Liu Xiaobo dieses Jahr nicht zuvorgekommen, wäre sogar die Verleihung des Friedensnobelpreises möglich. Im Übrigen würden die westlichen Staats- und Regierungschefs bestimmt auf die im Westen existierende Meinungs- und Informationsfreiheit hinweisen, die chinesische Forderung nach einer Zensur des Internets brüsk zurückweisen und Zhao Chongwei selbstverständlich politisches Asyl gewähren. Insgeheim würde man sich in Washington, London, Paris und Berlin ins Fäustchen lachen und die Demaskierung der Pekinger Autokraten begrüßen. Die Zeitungen würden Zhao Chongwei als Held feiern, weil er dem schier unbesiegbaren Drachen mutig Paroli bietet.

Nun ist Julian Assange zu seinem Leidwesen kein chinesischer Bürgerrechtler, sondern australischer Staatsbürger und Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks. Dort hat Assange die großen und kleinen Lügen der Staatsmänner der westlichen Demokratien aufgedeckt, beispielsweise Hubschrauber-Videos vom Mord an Zivilisten im Irak oder die geheime Korrespondenz amerikanischer Diplomaten. Julian Assange wird aber dafür weder geehrt noch geachtet, vielmehr als "Verräter", "Spion" und "Terrorist" beschimpft. Die Supermacht USA will ihm ans Leder. "Die frühere republikanische Präsidentschaftskandidatin Sarah Palin und ihr Parteifreund Peter King wollen Assange als Terroristen verfolgen lassen. Palin bezeichnete Assange als 'anti-amerikanischen Agenten, der Blut an den Händen hat'. King forderte vom US-Außenministerium gar, Wikileaks zu 'ausländischen Terrororganisation' zu erklären." [1] Paypal sperrt Wikileaks das Spendenkonto, Amazon verbannt die Website von den firmeneigenen Servern.

Die klammheimliche Freude, die man in den westlichen Hauptstädten bei der Veröffentlichung chinesischer Geheimdokumente empfunden hätte, ist wütenden Beißreflexen gewichen. Die Bloßgestellten haben Schaum vor dem Mund. Das Ganze will heißen: Lieber Julian Assange, die Sauereien anderer hättest Du ruhig ans Tageslicht zerren dürfen, doch lass gefälligst unsere eigenen Sauereien weiterhin im Dunkeln. Wie man in der Antike den Überbringer schlechter Nachrichten einen Kopf kürzer machte, so als sei er der eigentliche Verursacher, wird heutzutage Wikileaks angeprangert. Nicht der, der "Arschloch" sagt, muss sich rechtfertigen, sondern der, der die Beleidigung publiziert.

Angesichts dessen kann man denjenigen, die behaupten, wir würden von einer Bande von Heuchlern und notorischen Lügnern regiert, nicht einmal widersprechen. Ja, geben wir es unumwunden zu, wir leben in einer "Kultur der Lüge". Der moralische Verfall geht in der Regel eng mit dem ökonomischen einher. Auch in der aktuellen Finanzkrise haben Lügen bekanntlich eine nicht unmaßgebliche Rolle gespielt. Von daher verwundert es kaum, wenn das westliche Modell von Krise zu Krise taumelt. Die "Kultur der Lüge" wirkt zersetzend. Aufrichtigkeit ist die Grundvoraussetzung der Genesung. Wikileaks ist hierbei nur die bittere, aber dringend notwendige Medizin.

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[1] AFP vom 03.12.2010