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25. Dezember 2010, von Michael Schöfer
Kanzlerin der Ankündigungen


Angela Merkel verkauft Niederlagen als Siege und baut - mit tatkräftiger Unterstützung der schreibenden Zunft - auf das schlechte Gedächtnis des Wahlvolks.

"Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich für drastische Konsequenzen aus der Griechenland-Krise ausgesprochen. Staaten, die gegen die Defizitgrenzen der Europäischen Union verstoßen, sollte nach dem Willen Merkels künftig zeitweise das Stimmrecht in der EU entzogen werden. 'Es muss künftig möglich sein, einem Land, das seine Verpflichtungen nicht einhält, zumindest vorübergehend das Stimmrecht zu nehmen'", erklärte sie im Mai 2010. [1]

Was ist daraus geworden? Nichts!

Außerdem wollte die Regierungschefin automatische Sanktionen gegen Defizitsünder durchsetzen. "Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Vorschläge der EU-Kommission für schnellere und härtere Strafen gegen Defizitsünder begrüßt. Sie pochte am Mittwoch aber erneut auf Vertragsänderungen zur Bewältigung künftiger Krisen im Euro-Raum. (…) 'Wir sind für einen möglichst hohen Automatismus.' Sie plädierte dafür, dass ein automatisches Sanktionsverfahren nur mit qualifizierter Mehrheit verhindert werden könne." [2]

Was ist daraus geworden? Wieder nichts!

Anschließend wehrte sie sich gegen die Ausweitung des Euro-Rettungsschirms: "Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wies die Forderung nach einer Aufstockung zurück. Sie sehe 'zur Zeit' keine Notwendigkeit, den Rettungsschirm zu vergrößern (...). Bisher sei nur Irland unter den Schirm geschlüpft. Dafür reiche er mehr als aus." [3]

Nicht einmal 14 Tage danach war auch das Makulatur: "Die EU will ab 2013 einen dauerhaften Rettungsschirm für von der Pleite bedrohte Staaten wie Griechenland aufspannen. (…) Nach Informationen der 'Welt' haben sich die EU-Regierungschefs auch darauf verständigt, dass der neue Rettungsfonds in der Höhe unlimitiert sein wird." [4]

Das gleiche Spiel trieb sie mit der Haftung von privaten Gläubigern: "Die Bundeskanzlerin bekräftigte ihre Forderung, private Gläubiger an der Sanierung finanziell angeschlagener Euro-Staaten zu beteiligen. 'Hier geht es um die Frage des Primats der Politik', sagte die CDU-Politikerin. 'Hier geht es um die Frage der Grenzen der Märkte'. Es gehe darum, diejenigen in die Verantwortung zu nehmen, die Geld verdienten." [5] "Droht die Zahlungsunfähigkeit eines Landes, müssen private Gläubiger einen Beitrag leisten", legte Merkel der Nation noch vor wenigen Tagen in einer Regierungserklärung dar. [6]

Was ist daraus geworden? "Beim neuen Rettungsschirm, der den bisherigen provisorischen Hilfsfonds in Höhe von 750 Mrd. Euro ab Anfang 2013 ablösen soll, werden private Gläubiger - wenn überhaupt - nur sehr selten zur Kasse gebeten. Sollte ein Land, wie derzeit Irland, Liquiditätshilfen benötigen, so soll der Privatsektor lediglich 'ermutigt' werden, keine Staatsanleihen zu verkaufen - aber zwingen kann ihn niemand." [7]

Merkels "Müssen" mutierte also zum "Bitten". Ob die privaten Gläubiger einen Beitrag leisten wollen, steht in den Sternen. Und ob sie überhaupt einen nennenswerten Beitrag leisten können, ist genauso offen. Wenn nämlich die privaten Gläubiger (Banken, Versicherungen, Investmentfonds, Unternehmen etc.) pleitezugehen drohen, bleibt alles wie es ist: Die Rechnung begleicht der Steuerzahler.

Doch es kommt noch besser: Deutschland setzt sich zur Rettung des Euros für eine neue Institution neben der Europäischen Zentralbank (EZB) ein. Ein Papier des Bundesfinanzministeriums sieht die Einrichtung eines "Europaean Stability And Growth Investement Funds" (ESAGIF) vor. "Bemerkenswert ist, dass in den neuen Ideen aus der Bundesregierung eine Beteiligung privater Gläubiger an den Rettungskosten keine Rolle mehr spielen." [8] Anders ausgedrückt: Angela Merkel verzichtet künftig sogar aufs "Bitten".

Fassen wir zusammen:
  • Merkel wollte einen Stimmrechtsentzug für Defizitsünder - und bekam nichts.
  • Merkel wollte automatische Sanktionen - und bekam nichts.
  • Merkel wehrte sich gegen die Ausweitung des Euro-Rettungsschirms - und bekam einen unlimitierten Rettungsschirm.
  • Merkel wollte eine Beteiligung privater Gläubiger - und bekam eine wachsweiche Regelung, auf die sie neuerdings ganz verzichten möchte.
Mal gespannt, wie lange ihr "Nein" zu den Euro-Bonds hält. Zu ihrer Bekräftigung der Sicherheit unserer Spareinlagen habe ich ebenfalls kein Vertrauen. [9] Die gesamten Spareinlagen bei deutschen Banken beliefen sich im Oktober 2010 auf 617,1 Mrd. Euro. [10] Woher sie im Zweifelsfall das Geld für die Sparer-Garantie nehmen will, ist mehr als fraglich. Und vor Gericht wird man die Garantie kaum einklagen können, sie ist folglich bloß ein Placebo zur Beruhigung der Bevölkerung.

Nun darf man nicht ungerecht sein, Deutschland ist nicht die EU und die anderen 26 Mitgliedstaaten müssen natürlich bei jeder Maßnahme bereitwillig mitspielen. Das tun sie selten. Kein Regierungschef kann alle seine Forderungen durchsetzen, doch Angela Merkel setzt genaugenommen fast gar nichts durch. Jedenfalls nichts von dem, was sie - ihren Ankündigungen zufolge - anfangs plante. Gleichwohl lässt sie sich von der Presse feiern:
  • Angela Merkel sei "Die Königin von Brüssel", titelt die Münchner Abendzeitung. "Sie geht erfolgreich aus dem EU-Gipfel." [11] Tatsächlich?
  • "EU-Gipfel: Ein Etappensieg für Kanzlerin Merkel", schreibt der Focus. [12] Echt?
  • "Angela Merkel setzt in Brüssel ihren Willen durch", behauptet die Welt. [13] Wirklich?
  • "Deutscher Erfolg beim Euro-Gipfel: Und am Ende setzt sich die Kanzlerin durch", jubelt die Rheinische Post. [14] Ist das wahr?
  • "Merkel siegt im Euro-Poker", verkündet auch die FTD. [15] Es ist kaum zu glauben.
Das Gedächtnis der Journalisten ist extrem kurz, denn Merkels Erfolge sind lediglich Schein-Erfolge. Nur wenn man sich nicht an das erinnert, was sie ursprünglich wollte, kann man von einem Erfolg der Kanzlerin sprechen. In den Redaktionen herrscht offenbar kollektive Amnesie. Oder ist es gezielte Desinformation? Mit anderen Worten: Meinungsmache?

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[1] Die Welt-Online vom 01.05.2010
[2] Merkur-Online vom 29.09.2010
[3] FAZ.NET vom 07.12.2010
[4] Die Welt-Online vom 18.12.2010
[5] Die Welt-Online vom 24.11.2010
[6] Hamburger Abendblatt vom 16.12.2010
[7] Die Welt-Online vom 17.12.2010
[8] Süddeutsche vom 23.12.2010
[9] Reuters vom 16.12.2010
[10] Deutsche Bundesbank, Spareinlagen und an Nichtbanken abgegebene Sparbriefe der Banken in Deutschland, PDF-Datei mit 16 kb
[11] Abendzeitung vom 29.10.2010
[12] Focus-Online vom 29.10.2010
[13] Die Welt-Online vom 29.10.2010
[14] RP-Online vom 17.12.2010
[15] Financial Times Deutschland vom 29.10.2010