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25. Januar 2011, von Michael Schöfer
Mut zur Wahrheit


Hat jemand ein Anrecht darauf, Lügen und Vergehen zu verschleiern? Selbstverständlich nicht, vielmehr hat die Bevölkerung das Recht, die Wahrheit zu erfahren. Die ungeschminkte Wahrheit. Wenn Steuerhinterzieher durch gestohlene Daten-CDs enttarnt werden, ist das in meinen Augen in Ordnung. Wenn man erfährt, was Politiker wirklich übereinander denken, ebenso. Am wirkungsvollsten ist jedoch, die im Politikbetrieb allseits praktizierte Heuchelei aufzudecken.

Es gibt harmlose und brisante Fälle: Wenn der Vorstandschef eines Raumfahrtunternehmens das geplante europäische Satellitennavigationssystem "Galileo" intern als "Verschwendung von Steuergeldern" bezeichnet, obgleich seine Firma einen Auftrag zum Bau von Galileo-Satelliten bekommen hat, mag man das noch als Lappalie durchgehen lassen. Die amourösen Abenteuer eines gewissen Silvio Berlusconi sind, soweit nicht strafrechtlich relevant (sexueller Missbrauch von Jugendlichen), ebenfalls vollkommen ohne Belang. Doch wenn der Büroleiter des FDP-Parteivorsitzenden der US-Botschaft vertrauliche Informationen über die schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen zukommen lässt, ist der Rubikon zweifellos überschritten.

Spätestens hier verliert man das Anrecht auf Geheimhaltung. Solche Vorgänge haben nämlich überhaupt nichts mit der durchaus schutzwürdigen Privatsphäre der Bürger zu tun. Alle politischen Vorgänge in einer Republik sollten möglichst transparent sein, schließlich sagt das schon ihr Name (abgeleitet von lat. res publica = "öffentliche Angelegenheit"). Republik hier als Synonym für Demokratie. Anders ausgedrückt: Ohne Transparenz keine Demokratie. Und Transparenz tut halt zuweilen weh. Vor allem den Heuchlern, die bei ihren Lügen ertappt werden.

"Wie aus den von Wikileaks veröffentlichten US-Dokumenten hervorgeht, hat die Türkei den USA offenbar entgegen der offiziellen Verlautbarung geheime CIA-Überflüge erlaubt. Bei den Überflügen wurden Terrorverdächtige transportiert. Die Türkei hatte damals eine Verwicklung in die CIA-Flüge dementiert." [1] Wenn Politiker öffentlich "A" sagen, aber hintenherum "B" tun, muss das aufgedeckt werden. Und die Schandtat ist dann keinesfalls bei WikiLeaks, sondern allein bei den Heuchlern zu suchen.

Der arabische Fernsehsender "Al-Dschasira" und die britische Tageszeitung "Guardian" haben nun Details aus Geheimdokumenten veröffentlicht, wonach palästinensische Unterhändler zu weitreichenden Zugeständnissen an Israel bereit gewesen seien. Anders als öffentlich dargestellt hätte die Palästinenserregierung den Siedlungsbau in Ost-Jerusalem fast vollständig akzeptiert, bei der Frage der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge nachgegeben sowie eine enge Zusammenarbeit der palästinensischen Sicherheitskräfte mit Israel befürwortet. Die Dokumente bringen Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in arge Bedrängnis, die rivalisierende Hamas wirft ihm bereits Verrat vor, und arabische Kommentatoren zeigen sich entsetzt über die Nachgiebigkeit der PLO. Das Material sei "ein Bündel Lügen", verteidigt sich die Palästinenserbehörde.

Wie auch immer, die Palästinenser würden jedenfalls gerne die Wahrheit wissen, dann könnten sie sich wenigstens ein eigenes Urteil bilden. Ist ihnen das zu verdenken? Und ist dieser Wunsch unstatthaft? Natürlich ist eine gewisse Kompromissbereitschaft der Palästinenser für eine dauerhafte Friedenslösung sogar zwingend notwendig und beinhaltet lediglich das dafür unentbehrliche Quantum an Realitätssinn. Umso mehr ist das doppelbödige Spiel, sich einerseits dem Verhandlungspartner gegenüber nachgiebig zeigen, andererseits bei der eigenen Bevölkerung den starken Max markieren, zu verurteilen.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat gerade den Diktator Usbekistans, Islam Karimow, empfangen. Angeblich sei es bei den Treffen auch um das sensible Thema Menschenrechte gegangen. Er habe mit seinem Gast besonders über "die Menschenrechte und die Freiheitsrechte" geredet, die "das Herzstück der europäischen Außenpolitik" seien, ließ Barroso nach dem Treffen verbreiten. Als EU-Bürger wüsste ich gerne, ob das wirklich stimmt. Oder ob man mit dem usbekischen Präsidenten nicht doch bloß über Gaslieferungen und militärische Zusammenarbeit gesprochen hat. Im Kern geht es also darum: Lügt José Manuel Barroso oder sagt er die Wahrheit? Werden die EU-Bürger bewusst hinters Licht geführt oder vertreten Politiker bei internen Gesprächen tatsächlich unsere Interessen? Gibt es bei derartigen Anlässen nur Menschenrechtslyrik fürs tumbe Volk oder auch ernstgemeinte Mahnungen an Diktatoren vom Schlage Karimows?

Schade, dass man den offiziellen Verlautbarungen nicht trauen kann. Schade, dass Politiker viel zu selten Mut zur Wahrheit zeigen. Hätten sie ihn, wäre WikiLeaks eigentlich überflüssig. Nun ja, eigentlich... Manchmal hängt eben alles an einem kleinen Wort.

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[1] Focus-Online vom 17.01.2011