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13. März 2011, von Michael Schöfer
Absurde Vorwürfe


Stellen wir uns vor, jemand hätte jahrelang eindringlich vor den Gefahren der zivilen Luftfahrt gewarnt, ja den Kampf gegen den Lufttransport von Menschen zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Zunächst schien er gegen Windmühlen zu kämpfen, die Fluggastzahlen stiegen und stiegen. Und plötzlich geschah es: Nach und nach stürzten, aus Gründen, die wir hier nicht näher erörtern wollen, zahlreiche Flugzeuge vom Himmel. Unser tapferer Kämpfer mutierte mit einem Mal vom mitleidig belächelten Don Quichotte zum anerkannten Experten. Er wähnte sich bereits auf der Siegerstraße, als er laute Stimmen aus dem Hintergrund vernahm. Es waren die Vorstandsvorsitzenden der Luftfahrtgesellschaften, die ihn trotz allem lauthals anklagten: "Auf dem Rücken der zerfetzten Leiber von Passagieren agitiert man nicht." Don Quichotte erwiderte: "Aber habe ich nicht recht gehabt?"

Wem würden Sie wohl zustimmen? Dem tapferen Kämpfer gegen die zivile Luftfahrt oder den Luftfahrtgesellschaften? Laut Wikipedia gibt es gegenwärtig weltweit 212 Kernkraftwerke mit 442 Reaktorblöcken. In mindestens drei Kernkraftwerken gab es bislang schwere Unfälle, die zu einer Kernschmelze führten (Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima). Die Liste der Unfälle in kerntechnischen Anlagen ist wesentlich umfangreicher. Ob man auch das Kraftwerk Onagawa in die Liste aufnehmen muss, ist momentan noch unklar. Statistisch gesehen sollten solche Unfälle bei einem Kraftwerkstyp wie Biblis (Block B) höchstens alle 33.000 Betriebsjahre auftreten. Beim EPR sei sogar nur einmal in einer Million Jahren mit einem schweren Unfall zu rechnen. [1] Offenbar hält sich die Realität nicht an die Vorhersagen. Wenn, analog dazu, jede Woche ein Ferienflieger vom Himmel käme, würden Sie überhaupt noch in den Urlaub fliegen? Vermutlich nicht.

Die Grünen haben sich 1979 eigens dafür gegründet, die aus ihrer Sicht unverantwortliche Atompolitik der Regierenden zu ändern. Ohne Kernkraft gäbe es die Grünen vielleicht gar nicht. Aber nach der japanischen Atomkatastrophe wirft man ihnen dennoch vor, sie würden "quasi auf dem Rücken der Opfer" Wahlkampf betreiben. "Man möchte sich beim japanischen Volk für Claudia Roth und Co. entschuldigen", schreibt Sven Gösmann, ehemals stellvertretender Chefredakteur der Bild-Zeitung in Hamburg, in der Rheinischen Post. [2]

Perfide, nicht wahr? Gösmann greift nicht die Befürworter der Kernkraft und die Betreiber der Kernkraftwerke an (obgleich wir ihnen den Schlamassel zu verdanken haben), sondern die Kernkraftgegner. Ganz so, als seien Letztere für die Havarie verantwortlich. Der Grund liegt auf der Hand: Der japanische GAU ist Wasser auf die Mühlen der Grünen, schließlich haben sie schon immer mit Nachdruck vor der Kernkraft gewarnt. Das könnte Schwarz-Gelb bei den bevorstehenden Landtagswahlen die entscheidenden Prozentpunkte kosten. Insbesondere der erklärte Kernkraftbefürworter Steffan Mappus, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, muss sich Sorgen machen. Ängste würden geschürt, und "Experten von einseitig interessegeleiteten Institutionen wie Öko-Institut und Greenpeace" beherrschten die Fernsehnachrichten, beklagt Sven Gösmann. Stimmt, dass die Rechthaber auch noch recht haben, ist einfach unerträglich. Es wäre ihm wahrscheinlich viel lieber, auf allen Kanälen bloß die Bundeskanzlerin zu sehen, die jetzt über die Kernkraft ganz scharf nachdenken will. Messerscharf. Ihren Pro-Atom-Kurs wird sie gleichwohl unbeirrt beibehalten.

Warten wir es ab, wie die Wähler das Ganze beurteilen. Und zum Leidwesen der Gösmänner siegt manchmal auch Don Quichotte. Insbesondere dann, wenn er sich entgegen den allgemeinen Erwartungen als überaus klarsichtig erweist. Cervantes würde seinen "Ritter von der traurigen Gestalt" heute gewiss gegen Kernkraftwerke anreiten lassen. Ein moderner Don Quichotte wüsste nämlich: Windmühlen sind keine Feinde. Sie explodieren nicht, sie liefern nur Strom.

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[1] Wikipedia, Sicherheit von Kernkraftwerken, Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen
[2] Rheinische Post vom 13.03.2011