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20. März 2011, von Michael Schöfer
Libyen spaltet


Und zwar nicht die NATO, den Westen oder die Araber, sondern mich. Ist der Krieg (ja Krieg, denn wir wollen gar nicht erst damit beginnen, Euphemismen zu verwenden) gegen Gaddafi gerechtfertigt oder nicht? Ich bin, was das angeht, gespalten. Und ich will nicht so tun, als hätte ich auf alles eine passende Antwort parat. In diesem Fall habe ich nämlich keine.

Am liebsten würde ich natürlich dem bizarren Autokraten und dessen aufreizend großspurigen Söhnen das - Verzeihung - Maul stopfen lassen. Aber das sind Schulhofemotionen, die in der Politik nichts zu suchen haben. Und selbstverständlich hege ich große Sympathie für die unterdrückten Völker in den arabischen Staaten, wenngleich man gar nicht so genau weiß, wie sich die jeweilige Opposition genau zusammensetzt. In Ägypten und Tunesien scheint ja bisher alles gut zu gehen, doch die libyschen Gemengenlage ist absolut unübersichtlich. Unübersichtlicher als andernorts. Nur ein Beispiel: Das Symbol der libyschen Rebellen ist die Fahne des Vereinigten Königreich Libyen, König Idris ließ aber 1952 die politischen Parteien kurzerhand abschaffen. Mit anderen Worten: Das Symbol der Rebellen ist kein Symbol der Freiheit und der Demokratie. Welche Staatsform sie für die Zeit nach Gaddafi anstreben, steht demzufolge in den Sternen.

Ich bin noch heute der Auffassung, dass der Kosovo-Krieg völkerrechts- und damit verfassungswidrig war. Ich will keine Einzelheiten aufwühlen, doch die UCK und deren Führer, Hashim Thaci, waren wahrlich nicht die "good guys", als die man sie damals hinstellte (die armen, unterdrückten Kosovo-Albaner). Die Rolle des "bad guy" ist zwar mit Slobodan Milosevic erstklassig besetzt gewesen, doch genau betrachtet war er in diesem Spiel nicht der einzige Schurke. Wie man heute weiß, hat die UCK Taten begangen, die ihr in einer anderen politischen Konstellation durchaus das Etikett "Terrororganisation" oder "kriminelle Vereinigung" angeheftet hätten. UCK-Einheiten wird nämlich vorgeworfen, Zivilisten verfolgt, misshandelt, vergewaltigt, gefoltert und ermordet zu haben. Thaci wird häufig in Verbindung mit der organisierten Kriminalität gebracht und soll sogar am illegalen Organhandel von verschleppten und ermordeten Zivilisten beteiligt gewesen sein. Letzteres ist jedoch bislang nicht bewiesen, und Thaci streitet derartige Vorwürfe vehement ab. Wie dem auch sei, jedenfalls war der Kosovo-Krieg ein höchst fragwürdiges Unternehmen.

Den Einmarsch in Afghanistan habe ich dagegen für gerechtfertigt gehalten. Erstens wegen den Terroranschlägen von New York und Washington, die 2001 die ganze Welt schockierten. Und zweitens wegen dem kruden Steinzeit-Islam der Taliban, der sämtliche Menschenrechte krass missachtete. Was man daraus gemacht hat, steht allerdings aus einem anderen Blatt. Doch die Invasion hielt ich damals für richtig und angemessen, außerdem gab es, anders als beim Kosovo-Krieg, eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, juristisch war die Sache also legal.

Ich muss hier wohl kaum betonen, dass es sich beim Irak-Krieg ganz anders verhielt. Saddam Hussein war zwar ein noch fieserer Schurke als Milosevic, doch dem irakischen Volk die Demokratie mit Gewalt, Willkür und Menschenrechtsverletzungen beizubringen (Stichwort: Abu Ghuraib), hielt ich von Anfang an für vermessen. So etwas kann nur scheitern. US-Präsident George W. Bush ist in meinen Augen ein Verbrecher, der vor ein Gericht gestellt gehört. Zudem war der Krieg mit dreisten Lügen (Saddams nie gefundene Massenvernichtungswaffen) erkauft, darüber hinaus fehlte die Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat. Der Irak-Krieg war mithin ebenso völkerrechtswidrig wie der Kosovo-Krieg.

Dass die Staatengemeinschaft 1994 beim Völkermord in Ruanda die Hände in den Schoß gelegt hat, ist wiederum in meinen Augen zutiefst beschämend. Hier hätte man unbedingt militärisch intervenieren müssen, um dem grauenvollen Gemetzel Einhalt zu gebieten. Doch vielleicht war das kleine Land in der Mitte des afrikanischen Kontinents dafür einfach zu uninteressant, es waren weder geostrategische Interessen berührt noch bedeutende Rohstoffvorkommen im Spiel. Weltpolitik kann manchmal recht zynisch sein.

Wie auch immer, die Frage, ob das militärische Eingreifen in Libyen nun gerechtfertigt ist oder nicht, bleibt damit unbeantwortet. Einerseits ist es äußerst peinlich, von Muammar al-Gaddafi gelobt zu werden ("Die Deutschen haben uns gegenüber eine sehr gute Position eingenommen."). Sich bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat, der der Flugverbotszone am 17. März überraschend zugestimmt hat, auf der Seite von China und Russland wiederzufinden, ist genaugenommen ebenso blamabel. China und Russland sind bekanntlich keine herausragenden Hüter der Menschenrechte. Die arabische Opposition nur verbal zu unterstützen, ist ohne Frage zu wenig, insbesondere wenn sie gnadenlos zusammengeschossen wird.

Andererseits wissen wir, was aus militärischen Konflikten entstehen kann, selbst wenn sie mit guten Vorsätzen begonnen wurden (siehe Afghanistan). Kriege entwickeln immer eine Eigendynamik, und am Ende kommt dabei selten das heraus, was man anfangs erreichen wollte. Ich kann deshalb die Haltung von Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) durchaus nachvollziehen: "'Obwohl das Herz eher dafür spricht, sagt der kühle Kopf - lieber nicht. Wir sind von dieser militärischen Aktion nicht überzeugt.' Eine Flugverbotszone sei eine militärische Intervention und schließe auch die Bombardierung des Landes mit ein: 'Wenn die Luftwaffe ausgeschaltet ist und das Morden geht mit Panzern weiter, dann muss man gegebenenfalls Bodentruppen schicken und deswegen sagen wir: Bedenke das Ende.'" [1] Mir geht es genauso: Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Hilfe für die libysche Opposition (lasst die Menschen bloß nicht allein!) und der tiefverwurzelten Skepsis gegenüber militärischen Lösungsversuchen.

Laut einer repräsentativen Umfrage sollen 62 Prozent der Deutschen die militärische Intervention befürworten, gleichzeitig "halten es 65 Prozent der Bundesbürger für richtig, dass sich die Bundeswehr nicht an den Angriffen beteiligt". [2] Das spiegelt meine innere Zerrissenheit exakt wider. Emotional neige ich eher zum Eingreifen, rational rate ich zur Vorsicht.

Es ist manchmal ein großes Glück, zu Hause bequem auf dem Sofa zu sitzen und nicht auf dem Chefsessel im Kanzleramt. Wie würde ich entscheiden? Es ist eine Gratwanderung, jede Entscheidung könnte sich im Nachhinein als falsch oder richtig herausstellen. Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Die sonst so kluge Presse ist in dieser Hinsicht keine Hilfe. Heute wird man noch für die scheinbar unverständliche Zurückhaltung gerügt (Welt am Sonntag: "Eine Riesenblamage für unser Land"), morgen, wenn der Einsatz wider Erwarten aus dem Ruder laufen sollte, für das angeblich unüberlegte Eingreifen niedergemacht. Man sei ja gewarnt worden, wird es dann heißen.

Gibt es überhaupt einen Maßstab, der uns in derart verzwickten Situationen dienen könnte? Eine ethisch vertretbare Entscheidung zu treffen, ist gelegentlich äußerst schwierig. Es sind Einzelfallentscheidungen. Und mir ist bewusst, dass die libysche Opposition längst zerschlagen wäre, bis wir darüber nachgedacht und uns geeinigt hätten. Lange nachdenken kann man sich hier schlicht und ergreifend nicht leisten.

Ich weiß, liebe Leserinnen und Leser, ich bin Ihnen auch keine große Hilfe. Sie werden innerlich bestimmt ähnlich zerrissen sein wie ich, aber ich muss ihnen die Antwort trotzdem schuldig bleiben. Leider.

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[1] n-tv Liveticker vom 19.03.2011
[2] Focus-Online vom 20.03.2011