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26. April 2011, von Michael Schöfer
George W. bitte nicht vergessen


Die Welt will sich mit Despoten einfach nicht mehr abfinden, insbesondere wenn die gegenüber Unschuldigen brutale Gewalt anwenden. Deshalb wird die Staatengemeinschaft, allen voran die NATO, sämtliche Despoten notfalls unter Einsatz von militärischen Mitteln bekämpfen und am Ende dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zuführen. Motto: Willkür und Folter müssen geahndet werden, die Menschenrechte sind unbedingt zu beachten. Gut so!

In der Reihe besagter Despoten stehen u.a. Muammar al-Gaddafi (Libyen), Husni Mubarak (Ägypten), Ali Abdullah Salih (Jemen), Baschar al-Assad (Syrien) und Umar Hasan Ahmad al-Baschir (Sudan). Gaddafi wird bereits bombardiert, Mubarak wurde inzwischen von seiner eigenen Armee inhaftiert, gegen Baschir existiert schon seit langem ein internationaler Haftbefehl, und Salih sowie Assad sind auf dem besten Wege, das Schicksal Gaddafis zu teilen. Die NATO ist in dieser Beziehung nämlich unerbittlich.

Mit einer einzigen Ausnahme: George W. Bush, der zwischen 2001 und 2009 US-Präsident war, darf seinen Lebensabend weiterhin in aller Ruhe genießen. Zwar hat auch er Unschuldige verschleppen lassen, jahrelang ohne Anklage und Gerichtsurteil inhaftiert, unmenschliche Verhörmethoden angeordnet (bei deren Anwendung etliche sogar gestorben sind) und völkerrechtswidrige Angriffskriege entfacht - dennoch hat die NATO weder Luftangriffe angedroht geschweige denn durchgeführt. Über seine Verhaftung bzw. die Einleitung eines Gerichtsverfahrens ist bislang ebenfalls nichts bekannt geworden. Was das angeht ist die ägyptische Armee erstaunlicherweise konsequenter als die amerikanische. Kaum zu glauben: Der Verbrecher George W. lebt vollkommen unbehelligt in der Nähe von Dallas im US-Bundesstaat Texas.

Noch schlimmer: Derjenige, der mitgeholfen hat, Bushs Untaten aufzuklären, WikiLeaks-Gründer Julian Assange, muss seine Auslieferung an die USA befürchten. Dessen mutmaßlicher Informant, der ehemalige Soldat Bradley E. Manning, sitzt dort bereits unter inakzeptablen Haftbedingungen ein. Würde die NATO die libyschen Rebellenführer inhaftieren und Gaddafi einen sorgenfreien Altersruhesitz an der Côte d’Azur garantieren, wäre das Geschrei gewiss riesengroß. Doch Bush seiner gerechten Strafe zuzuführen, darum kümmert sich offenbar niemand, nicht einmal Friedensnobelpreisträger Barack Obama. Ein Skandal ohnegleichen. Und behaupte keiner, der arme George W. hätte nicht gewusst, was er tat. Er wusste es genau, seine eigenen Leute habe es ihm detailliert geschildert. [1]

Deshalb rufe ich: Hey, einen bitte nicht vergessen, George W. Bush gehört endlich vor ein ordentliches Gericht gestellt, denn seine Schandtaten sind mit denen von Gaddafi und Assad durchaus vergleichbar.

Ich weiß, liebe NATO, Du unternimmst nichts, weil selbst Du militärisch nichts gegen die USA ausrichten kannst. Die sind eben um ein Vielfaches stärker. Nur deshalb ist George W. Bush noch frei. Dennoch könntest Du es wenigstens einmal versuchen. Gleiches Recht für alle, das predigst Du uns doch ständig und nennst Dich deswegen hochtrabend "Wertegemeinschaft". Ich verlange nicht, Washington zu bombardieren. Gott behüte, nein. Was ich verlange, ist lediglich ein kleines Zeichen. Wie wäre es mit einer minutiös ausformulierten, auf stichhaltigen Beweisen beruhende Anklageschrift? Nur, damit die anderen Despoten sehen: Huch, die NATO meint es ja tatsächlich ernst.

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[1] Süddeutsche vom 26.04.2011